Etymologie

Verhör

Verhör n. „eingehende richterliche oder polizeiliche Befragung einer Person zur Klä­rung eines Sachverhaltes; Vernehmung“ ist seit frnhd. verhœr n. (2. Hälfte 15. Jh.), verhœre f., verhœrde f. mit derselben Bedeutung bezeugt (die frühesten Belege in den Monumenta Habsburgica; Urkunden aus den siebziger Jahren des 15. Jh.s, nach Lexer. Vgl. z.B. noch dasz ich mich aber zur verhöre und gericht erboten habe; Luther, Briefe 2, 139, nach DWb); im Älteren Neuhochdeutschen z.B. in […] die wurden / so bald sie der endts kamen / nach kurtzer verhör / auff dem Platz / im Schloß / in deß Bundts Namen / mit dem Schwert gericht. (Peter Harer, Eigentliche warhafftige Beschreibung deß Bawrenkriegs. Frankfurt (Main) 1625; nach DTA). Das zugehörige Verb verhören ist bereits seit mittelhochdeutscher Zeit, jedoch zuerst nur in der Bedeutung „hören, anhören; überhören“ nachweisbar.
Ver­hör ist Abstraktum zum Verb verhören, einer Präfixbildung zu hören, got. hausjan, anord. heyra, aengl. hyran, afries. hēra, ahd. hōren „hören“ < urgerman. *χauz-je/a-. Die urgermanischen Formen setzen einen uridg. Präsensstamm *h2kous-e/o- „hören“ fort; das hierher gehörige griech. akoúein „hören“ ist ein thematisches Prs. *h2kous-e/o-. Auffällig ist hierbei die o-Stufe der Wurzel, da man sowohl bei den -e/o-Präsentien als auch bei den thematischen Präsentien eher Schwundstufe oder e-Stufe, nur gelegentlich o-Stufe erwartet (LIV²: 18). Die germanischen Formen ließen sich allenfalls noch als Umbildungen nach dem Muster von Kausativen, bei denen die o-Stufe regulär ist (z.B. wählen < urgerman. *wal-eje/a- < uridg. *olh1-ee/o- *„jemanden wünschen lassen“), erklären, da die *-e/o-Präsentien mit den Kausativen (uridg. Formans *-ee/o-) in der Klasse der -(e)jan-Verben zusammengefallen sind (Bailey 1997: 53ff.); für das Griechische ist eine solche Erklärung nicht möglich. Zur seltenen o-Stufe vgl. etwa griech. kóptein „stoßen, schlagen“ < *kop-e/o- (Klingenschmitt 1982: 174 Anm. 19).
Möglicherweise ist uridg. *h2kous- eine aus einem vor­ur­indogermanischen Possessivkompositum *h2k-h2ous-(o-) „scharfe, spitze Ohren ha­bend“ rück­ge­bildete sekundäre Verbalwurzel mit Laryngalschwund im Kompositions­hinter­glied (Schaffner 2001: 580 Anm. 308; EWA s.v. hôren; semantisch vergleichbar ist der nhd. Ausdruck die Ohren spitzen „genau zuhören, lauschen“). Eine andere Erklärung wird in LIV²: 561 angenommen: Die urgerman. Wurzel *χaus- ist die s-Erweiterung einer uridg. Wurzel *(s)keuh1- „beachten, vernehmen, schauen“, die in griech. koéō, koéein „bemerken, vernehmen, hören“, lat. caveō, cavēre „sich in Acht nehmen, aufpassen“, aind. (ā)kuváte „beabsichtigen“ (EWAia I: 328) sowie aksl. čujǫ, čuti „fühlen, merken“ belegt ist (vgl. auch EWD s.v. hören). Auch nhd. schauen kann zu dieser Wurzel (einmal mit, einmal ohne s-mobile) gestellt werden (EWD s.v. hören, schauen).

Literatur:
Bailey, Christopher Gordon 1997: The Etymology of the Old High German Weak Verb, PhD-Thesis University of Newcastle upon Tyne. 
Beekes, Robert S.P. 2009: Etymological Dictionary of Greek. Amsterdam: Brill.
De Vaan, Michiel 2008: Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages. Leiden, Boston: Brill. (Leiden Indo-European Etymological Dictionary Series 7).
Derksen, Rick 2008: Etymological Dictionary of the Slavic Inherited Lexicon, Leiden-Boston: Brill. 
DTA = www.deutschestextarchiv.de.
DWb = Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Karg-Gasterstädt, Elisabeth u.a. 1952–: Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftr. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bd. 1–. Berlin: Akad.-Verl.
Klingenschmitt, Gert 1982: Altarmenisches Verbum. Wiesbaden: Reichert.
Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Köbler AhdWb = Köbler, Gerhard: Althochdeutsches Wörterbuch, 4 Auflage, online uter http://www.koeblergerhard.de/ahdwbhin.html.
Kroonen, Guus 2013: Etymological Dictionary of Proto-Germanic, Leiden-Boston: Brill.
EWA = Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
EWAia = Mayrhofer, Manfred 1992–2001: Etymologisches Wörterbuch des Altindoarischen. 3 Bde. Heidelberg: Winter.
Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1866. Online auch unter http://woerterbuchnetz.de/BMZ/
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl.
LIV = Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb. von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2., erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix. Wiesbaden: Reichert.
Schaffner, Stefan 2001: Das Vernersche Gesetz und der innerparadigmatische grammatische Wechsel des Urgermanischen im Nominalbereich. Innsbruck: Inst. für Sprachen und Literaturen. (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 103). 

Autorin: Sabine Ziegler