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Als Sprachwissenschaftlerin stolpert Susanne Zeilfelder immer wieder über „komische“ Wörter...

Was ist virtuelle Realität?

Oktober 2020

Virtuelle Realität ist, wenn ich ganz arglos in meinem Wohnzimmer sitze und mein Neffe plötzlich sagt: „Da sitzt fei ein Pokemon genau neben dir.“ - „Iiiih, mach’s weg!!!“
So ist sie nämlich, die virtuelle Realität, sie ist einfach da, und wenn man dann wissen will, wer das blöde Ding überhaupt reingelassen hat, dann will’s wieder keiner gewesen sein.
Das Wort kann übrigens nix dafür:

Virtuell (v. lat. virtus, Tugend, Tauglichkeit), im physikalischen Sprachgebrauch eine in der Möglichkeit vorhandene Eigenschaft, die unter gewissen Umständen in die Wirklichkeit zu treten vermag So sagt man z. B., die gespannte Sehne einer Armbrust besitze „virtuelle Energie“ (Arbeitsfähigkeit), weil sie, wenn losgelassen, den Pfeil fortzuschleudern vermag, indem sich dabei die in der ruhenden Sehne gleichsam schlummernde virtuelle Energie in die aktuelle oder tätige Energie (Bewegungsenergie) des dahinfliegenden Pfeiles verwandelt.

Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 20. Leipzig 1909, s.v.

Nach dieser Definition könnte also der „virtuelle Unterricht“, von dem im Moment auf einmal alle so merkwürdig begeistert sind, darin bestehen, dass man den Studis mitteilt: Ich könnte euch jetzt unterrichten, ich mach’s aber nicht - ätschibätschi!
Dann wär ich übrigens auch dafür.


Infektionsschutz im Puff

Oktober 2020

Ich hab’s kommen sehen, dafür gibt es Zeugen: In diesem unserem Kulturland macht man eher die Bordelle wieder auf als die Theater und Kinos. Logisch, im Puff ist ja der Infektionsschutz auch viel einfacher durchführbar, meint jedenfalls jetzt die Stadt Stuttgart, führt Maskenpflicht in der ganzen Innenstadt ein und lässt gleichzeit die Damen wieder arbeiten. Allerdings bleibt Gruppensex verboten, und selbstverständlich werden die Hygieneregeln auch im Gewerbe vom Ordnungsamt kontrolliert, claro, wir sind ja in Deutschland:

„Grissgott, Scheiffele on Linsemaier, Ordnungsamt Schtadd Schduddgard, machet Se noo weider - mir gucket bloss gschwend nochem Infektiooonsschutz!“
„ ... “

„Abbor a Masge misset Se do fai scho trage!“
„ ... “
„Ja wia jedsor - gooht ned, hebt ned?“
„ ... “
„Ha noi, des hend Se jeds falsch vorschdande - der Denger sodd ins Gsicht nai, ned uff der ... uff der Denger druff ...“

[Hochdeutsche Fassung: „Guten Tag, Schäufele und Linsenmeier vom Ordnungsamt der Stadt Stuttgart, machen Sie ruhig weiter - wir kontrollieren nur kurz den Infektionsschutz!“ - „Aber eine Maske müssen Sie hier schon tragen!“ - „Wie - geht nicht, hält nicht?“ - „Ach so, das haben Sie jetzt falsch verstanden - das Dings muss vors Gesicht, nicht auf den ... Dings ...“]

Ähm, aber eigentlich wollte ich das Wort Puff erklären. Puff bedeutet „Stoß“, und das Benennungsmotiv ist NICHT das, woran Sie gerade denken, Sie Wutzbär. Puff ist vielmehr ein backgammon- oder trictrac-artiges Würfelbrettspiel, das angeblich in solchen Etablissements früher gern gespielt wurde, und hat seinen Namen wahrscheinlich von der Möglichkeit, einen gegnerischen Spielstein aus dem Feld zu schlagen.
Das find ich jetzt aber direkt schon wieder langweilig.


Rettet die Gänsefüßchen!

Februar 2019

Für die Bildqualität beim beigefügten Foto bitte ich vielmals um Entschuldigung – ich fotografiere normalerweise nicht, schon gar nicht mit dem Handy. Und außerdem musste ich so schrecklich lachen, dass ich es endgültig verwackelt habe. Also, da stand auf einem Zettel an der Tür zu Seminarraum 114:

Antisemitismus im 21. Jhd. findet am 18.10. statt

Nun ist es natürlich skandalös, dass im 21. Jahrhundert immer noch Antisemitismus stattfindet. Wir missbilligen das zutiefst und finden es abscheulich. Aber die gute Nachricht ist: Der Zettel bezieht sich auf den 18.10.2018. Für dieses Jahrhundert ist es somit schon ausgestanden. Im nächsten sehen wir dann weiter.
Für den Grammatiker ist hier aber auch noch eine Quizfrage versteckt. Wir fangen mal hintenrum an. Wenn Sie bei:

Von Quatsch kann hier gar keine Rede sein!

den Kasus von Quatsch bestimmen müssten, würden Sie wahrscheinlich den Dativ vorschlagen. Aber was machen Sie mit:

Von lustig kann hier gar keine Rede sein!

wie bestimmen Sie lustig? Eben, gar nicht. Und um auch in gedruckten Texten anzuzeigen, dass es sich um eine unflektierte Zitierform handelt, hat irgendein genialer Buchdrucker im 18. Jh. die Anführungszeichen oder eben Gänsefüßchen erfunden.
Gänseaugen, Gänsefüßchen sind so gestaltet: „heissen eigentlich: Citationszeichen (Christian Gottlob Täubel, Orthotypographisches Handbuch; oder: Anleitung zur gründlichen Kenntniss derjenigen Theile der Buchdruckerkunst welche allen Schriftstellern, Buchhändlern, besonders aber denen Correctoren unentbehrlich sind, 1785).
Das Wort Gänsefüße ist allerdings schon älter: Also auch noch beschrieben steht / Was Meßalinus Cotta thet. / der kund die breite Gänse füß / Wol zubereiten also süß / Daß es ein Lust zu essen war: / Wie solchs Plinius schreibet klar. (Lycosthenes Psellionoros Andropediacus alias Wolfhart Spangenberg, Ganß König. Ein kurtzweylig Gedicht von der Martins Ganß, 1607).
Bestimmt lecker!


Glutééén

Juli 2018

Haben Sie auch Glutéhn? Das hat man jetzt. „Nicht-zöliakische Glutensensitivität“ heißt das jetzt, wenn man vom Eiweißkleber im Getreide Bauchgrummeln kriegt. Naja, jeder, wie er mag.

Was hingegen keine Geschmackssache ist, sind die lateinischen Betonungsregeln, die sind seit ungefähr zweieinhalbtausend Jahren bekannt. Weiß man einfach, nicht wahr, Marcel-Alexander, das habt ihr doch neulich in der Krabbelgruppe schon besprochen, gell? Im Lateinischen betont man ... na? Richtig. Nach der Paenultimaregel, genau. Und das bedeutet, na, Maibritt-Luise? Eben: Die vorletzte Silbe (Paenultima) wird betont, wenn sie lang ist, sonst die vorvorletzte (Antepaenultima). - Woraus logisch folgt, hm, Klaus-Friedrich? Daraus folgt, genau, dass es keine lateinischen Wörter gibt, die auf der allerletzten Silbe betont sind. Also wirklich gar keine. Kein einziges.

Sollte das Wort also etwa nicht lateinisch sein? Da sei der Heilige Stowasser vor, denn da steht: gluten, glutinis n. „Klebstoff“.

Also, was ist da jetzt wieder los? Denn selbst wenn man zu den bedauernswerten Zeitgenossen gehört, denen die Erlernung des Lateinischen inhumanerweise versagt worden ist – wir haben da im Deutschen außerdem noch eine Notfallregel für Wortexoten, bei denen man nicht weiß, wo der Akzent anständigerweise hingehört: Nach dieser Deppenregel wird in Zweifelsfällen immer die vorletzte Silbe betont, und so wird z.B. eine Nachrichtensprecherin, die onomastisch gesehen vom Sohn eines Christan abstammen muss, Christiánsen akzentuiert, und ein glutäugiger Fußballspieler mit eingebautem armenischem Endsilbenakzent wird im Deutschen zu Mechitárian (oder so ähnlich) versaubeutelt. Tja, Pech gehabt.

Aber wieso nützt das jetzt dem guten alten Glúten nichts? Ich sag’s Ihnen: Weil Glutén einfach intellektueller klingt. Irgendwie mehr so medizinisch-wissenschaftlich, wie Kollagén oder Glycosylierungsenzym oder Polypropylen oder wie das Teufelszeug noch heißt, das ist natürlich alles griechisch und braucht sich um lateinische Betonung nicht zu scheren, aber egal. Und sobald dann auch noch kompetent wirkende Sympathieträger im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ein Modewort wie Gluten falsch aussprechen (Vielen Dank, Herr von Hirschhausen!), dann isch over.


Bitte überprüfen Sie Ihren Einwurf!

Mai 2018

Neulich war ich bei der Bank und wollte ein Überweisungsformular einwerfen. Doch, diese Formulare gibt’s noch - für schrullige Buchantiquariate oder wenn man bei der Stadtverwaltung Jena einen Strafzettel für Falschparken bezahlen muss (das geht Sie jetzt garnix an, was ich da bezahlt habe, und außerdem ist das eine andere Geschichte). Also, Formular ausgefüllt, und dann vorschriftsmäßig in die Box für die Überweisungen gesteckt. Und da steht dann also diese Inschrift auf der Box und mahnt mich mit Donnerhall:

BITTE ÜBERPRÜFEN SIE IHREN EINWURF!

Was möchte uns der Dichter damit sagen? Darüber grüble ich jetzt seit Tagen. Wie kann man denn einen Einwurf überprüfen? - Es sei denn natürlich, man ist Fußballschiedsrichter und der Videoassistent hat sich grade gemeldet.

Obwohl das dann ja auch nicht sein Einwurf wäre ... na, egal ich spiele ja sowieso seit 40 Jahren nicht mehr Fußball, außer mit meinen Neffen, und da hat sich der Videoassistent noch nie beschwert ... Wo war ich? Ach so, in der Bank. Ich halte mich normalerweise schon an Vorschriften, vor allem, wenn es nichts kostet, aber wie überprüfe ich nun meinen Einwurf? Was könnte dem Überweisungsformular denn auf dem Weg zwischen Einwurfschlitz und Boxboden noch zustoßen? Und wenn ihm was zustößt, was soll ich denn machen - die Box ist ja verschlossen! Oder hupfen solche kleinen Biester manchmal wieder raus, wenn sie finden, dass ich Geld für Unfug ausgebe? Oder glauben die fürsorglichen Herren von der Bank, ich treffe den Schlitz nicht, wenn ich nicht högschde Konzentration aufbringe? Oder gibt es womöglich eine kassenärztlich empfohlene Wurfhaltung beim Überweisungsformulareinwerfen, die ganz besonders den Nacken und die Sehnenscheide schont? Oder werfen manche Kunden versehentlich ihr Wurstbrot in die Box und beißen anschließend in das Bankformular? Aber dann müsste es ja heißen:

BITTE ÜBERPRÜFEN SIE IHREN EINWURF – VORHER!

Lieber Leser, wenn Sie irgendeine Idee haben – schreiben Sie mir!


„Panini naturale“ oder Wer kriegt den letzten Spaghetto?

Januar 2018

In unserem beschaulichen thüringischen Universitätsstädtchen gibt es vorzügliche Bäckereien, nichts zu sagen. Und da steht man dann morgens halbwach und wartet, bis das durch die Maschine geröchelt ist, was mein germanistischer Kollege S. als "befleckte Milch" bezeichnet. Also der erste Latte macchiato des Tages, und wir machen hier jetzt keine blöden Latte-Witze mehr.

Da steht man nun als Sprachwissenschaftler, lässt den Blick schweifen und ... seufz. Hier gab es bis vor kurzem allen Ernstes etwas namens Topfenstrudel. Wie gesagt, bis vor kurzem, denn offensichtlich hat sich meine österreichische Oma inzwischen oft genug im Grab rumgedreht.

Ein Strudel, Ihr Lieben, ist eine hauchzarte Mehlspeise mit möglichst viel Füllung in einer möglichst dünnen Teighülle. Durchan Strudlteig, pflegte meine Oma in ihrem ergreifend scheußlichen nordmährischen Gebirgsdialekt zu sagen, muus ma kennen Zeitungläsn. Und was da in der Bäckereivitrine liegt, ist schlicht und einfach eine Quarktasche aus tonnenschwerem Plunderteig. Sie heißt aber immer noch Topfentasche. Wie um alles in der Welt kommt der Topfen nach Thüringen? Hat er sich verfahren, wie neulich die Schrippe, die mir am Münchner Hauptbahnhof allen Ernstes zu einer Wurst offeriert wurde? Oder ist Quark aus irgendwelchen Gründen jetzt nicht mehr politisch korrekt? Fühlt sich so ein Gebäckstück irgendwie diskriminiert, wenn man es mit einem Wort bezeichnet, das im Deutschen auch "Quatsch" bedeuten kann? Fragen über Fragen.

Der Latte röchelt, der Blick schweift weiter ... seufz. Panini naturale. Und da kommt auch schon eine Kundin und will eines kaufen. Nämlich ein Panini. Naja, natürlich ist Italien das Sehnsuchtsland der Deutschen, und die Älteren erinnern sich vielleicht noch an die paradiesischen Zeiten, als an italienischen Bahnsteigen immer ein junger Mann mit einem Imbisswägelchen stand und markerschütternd brüllte "panniiiiiiiiini-bibiiiiiiiiite-birrrrrrra". Der durfte das, der hatte nämlich immer mehrere Brötchen vorrätig, und panini ist Plural; naturale ist leider Singular. Was uns hier also bevorsteht, ist wiedermal die Bildung eines Neoplurals zu einem Wort, das eigentlich sowieso schon pluralisch ist: ein panini, zwei paninis. Das ist uns beim Spaghetto auch schon mal passiert, aber das ist schon dadurch entschuldigt, dass einem da Einzelstücke ausgesprochen selten unterkommen. Naja, vielleicht in ärmlichen Studentenhaushalten... in sehr ärmlichen.

Und wenn der Latte ausgeröchelt hat, verlässt man die Bäckerei mit den letzten Fragen: Was sind denn eigentlich "natürliche Brötchen"? Auf welchem Strauch wachsen sie? Oder muss man sie aus der Erde buddeln wie Erdäpfel? Wachsen sie im Beet wie Karfiol oder Vogerlsalat? Oder unterscheiden sie sich von unnatürlichen Brötchen nur durch die Freilandhaltung?

Und in der Mittagspause geh ich ins Bistro und ess ein paar Notschi.


Wort des Monats: Der Lichtbildausweis

September 2017

Jeder Bahnfahrer kennt das: Früher oder später gerät man an einen Schaffner, Pardon: Zugbegleiter, dem langweilig ist. Und zwar nicht nur langweilig, sondern laaaaaaangweilig ... Dann sucht er sich eine sinnvolle Beschäftigung und kontrolliert bereits dreimal abgezwickte Fahrscheine nochmal ganz gründlich. Bei allen. Aber ganz gründlich. Dann studiert er die Bahncards, ebenfalls ganz gründlich. Also wirklich gründlich. Und wenn man dann an einen geraten ist, der Langeweile aber wirklich gar nicht aushält, verlangt er einen Lichtbildausweis.

[Man könnte hier eine Fußnote machen und darauf hinweisen, dass er das laut "Nutzungshinweisen" gar nicht darf, aber wer liest schon das Kleingedruckte?]

Naturgesetz No. 1: Das passiert nur an Tagen, wo man keinen dabeihat.

Nun ist das Schöne an Großraumwaggons, dass man bei der nun folgenden empörten Szene zu den Themen "Kundenfreundlichkeit", "Generalverdacht", "Schikane" und "da lachen ja die Hühner" ein ausreichend großes Publikum hat. – Aber hier soll es ja um Wörter gehen, also:

Der LICHTBILDAUSWEIS

ist ein ob seiner Unbeholfenheit ausgesprochen scheues Wort, das sich selten aus der Deckung seines geschützten natürlichen Habitats (Ordnungsbehörden und Deutsche Bahn) herauswagt. Es bezeichnet ein amtliches Identitätsdokument, welches mit einem Lichtbild des Identitätsdokumentsinhabers versehen ist. Jaja, ein Lichtbild:

Du Lichtbild, das, wenn's einmal nur erscheint, Im Herzen anfacht, selbst im welken, kalten, Das man für Lust und Schmerz erstorben meint ...

Justinus Kerner, An die Prinzessin Marie von Württemberg, 1833

Ein gemeines Auge sieht in der schönen Seele nur einzelne Lichtblike, wo hingegen das gesalbte Auge das ganze innerliche Lichtbild erblikt

Schubart, Leben und Gesinnungen, 1791-93

Tja, wenn wir jetzt die Sprachgeschichte nicht hätten, hätten Sie Pech gehabt, lieber Leser. Wer keine so verklärende Seelen-Lichtgestalt darstellt, hätte eben keinen Pass gekriegt.

Gottseidank ging die Geschichte aber noch weiter und ein gewisser Joseph Nicéphore Niépce erfand im Jahr 1826 die erste Heliographie, den Vorläufer der Photographie (die Einzelheiten können Sie nun wirklich woanders nachlesen!), und da haben wir's schon: Photo-Graphie = Licht-Malung, oder, wie das Grimmsche Wörterbuch unter dem Stichwort lichtbild n. so schön definiert: "ein durch einwirkung des lichts auf eine dazu chemisch vorbereitete platte hergestelltes bild (daguerreotypie, photographie)."

Das Kompositum Lichtbildausweis kennt der alte Grimm allerdings noch nicht, das entsteht erst in den 1920er Jahren. Und so kurz nach dem 1. Weltkrieg konnte man natürlich nicht das irgendwie welsche Photographie verwenden. Griechisch hin oder her.

Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhundert hatte es der Lichtbildausweis allerdings nicht leicht, schon weil irgendwann jeder Ausweis ein Bild enthalten musste und immer seltener jemand versuchte, statt des Lichtbilds eine Ölminiatur in seinen Reisepass zu schmuggeln. Mal sehen, wie es weitergeht.