Etymology

Geschoss

In der Bedeutung „Stockwerk, Etage“ ist Geschoss n. seit dem Mittelhochdeutschen belegt: tecmen de schindil super unum geschoʒ (CDS. 2,152 (a. 1239), Lexer s.v. geschôʒ), des kellers geschoʒ (WEIM. hs. 221, Lexer s.v. geschôʒ). Voraus geht die Bedeutung „ge­schleudeter Gegenstand“, die schon seit dem 10 Jh. (ahd. giskoz st. n. a-St.) belegt ist.
Die These, dass die Bedeutung „Stockwerk“ metaphorisch aus „Pflanzenspross“ ent­standen ist (z.B. Adelung s.v. Geschoß, Kluge/Seebold s.v. Geschoß), scheitert schon daran, dass Geschoss n. „Pflanzenspross“ erst seit dem Frühneuhochdeutschen zu be­legen ist: schöszling, schosz an gewächsen, mndl. geschot: saltus, novi frondes qui sa­liunt in altum, geschosz BRACK (1495) 50a; unfruchtbar geschosz, spado DIEF. 544b (DWb s.v. Geschoß). Auch findet ahd. skioz st. m. (a?-, i?-St.) „Giebelseite“ (11. Jh.) keine Berück­sichtigung, das wie anord. skutr m. „Achtersteven“ einen Bezug auf Räumlichkeiten zeigt. Dieser Bezug ist mit der Bedeutung „schießen“, wie sie für das zugrunde liegen­de Verbum *ske- zu rekonstruieren ist, nur schwer zu verbinden – die Verbindung über *„Hervorschießendes“ ist nur ein Behelf auf abstrakter Ebene. Noch weniger passt indessen eine Bedeutung „schnell sein“, die dem Verb auch zugeschrieben wird. Be­trachtet man nun die bezeugten Wörter mit ihren Entsprechungen und in ihrer Wort­familie genauer, so ergibt sich eine deutliche Unterteilung:

A:
<BEZUG AUF: Schießen>
ahd. skoz st. n. (a) „Geschoss, Wurfgeschoss, Wurfspeer“
ahd. skiozan „schießen“
<BEZUG AUF: Werfen>
ahd. skuz st. m. (i) „Schuss“
ahd. skiozan „werfen“
aisl. skot n. Schuss, Geschoss“
alb. hedh „worfle“
ahd. skoz st. n. (a) „Geschoss, Wurfgeschoss, Wurfspeer“
ahd. skæzgabala st. f. (æ) „(Ernte-)Gabel“, nhd. (alt.-dial.) Schoßgabel f. „eiserne Gabel mit zwei Zacken“
aengl. gescot „Geschoss“
<BEZUG AUF: Geschwindigkeit>
ahd. skuz
Verb „schießen“
aisl. skjōtr „schnell“, m. „Wagen, Beförderung“
as. scēot „schnell“
ae. scēot „schnelle Bewegung“
lit. skudrus „flink“
ai. codāmi „treibe an“
 
B:
<BEZUG AUF: Pflanze>
ahd. skoz st. n. (a) „Schössling“
ahd. skuzziling st. m. (a?) „ Schössling, Pflänzling, Rebschoss“ 
<BEZUG AUF: Räumlichkeit>
ahd. skioz st. m. (a?, i?) „Giebelseite“, mhd. schieß m. „Giebel“
anord. skutr m. „Achtersteven“
mhd. geschoss „Stockwerk“
aisl. skaut „Ecke, Kante, Himmelsrichtung“
aisl. skot n. „Einbau, Anbau, Stockwerk“
mndd. schott „Riegel, Verschluss“
ae. scēat „vorspringende Ecke, Gegend“
anord. skeyta „zusammenfügen“
<BEZUG AUF: Körper>
ahd. skuzbart
gr. kudías „Zahnkeim“
nhd. Schoß
ae. scēat „Schoß“
<BEZUG AUF: Kleidung>
got. skaut „Schoß, Saum“
aisl. skaut „Zipfel, Schoß, Tuch“
ae. scēat „Schoß“

Die prototypischen Merkmale in der linken Spalte führen auf eine verbale Grund­bedeutung „etwas ausholend in eine schnelle Bewegung versetzen“, bezeugt in ver­schie­denen Sprachen. Der zweite Bedeutungsstrang in der rechten Spalte, der sich nur im Germanischen und evtl. im Griechischen findet, geht von „hervortreten, heraus­kommen“ aus. Ein Zusammenhang beider Bedeutungen setzt voraus, dass von der ersten Bedeutung die Transititivät, der Bezug auf eine schnelle Bewegung und die Ak­tion des Ausholens verloren gegangen sind – mithin alle Elemente der Bedeutung. Un­ter diesen Umständen ist zu überlegen, ob man nicht doch eher von zwei Wurzeln aus­gehen sollte, zumal die Fortsetzer von „hervortreten, herauskommen“ bis auf anord. skeyta alle nominal sind, so dass ‑d- auch Wortbildungssuffix sein könnte. Folgende Mög­lichkeiten ergeben sich: 1. zwei homonyme Wurzeln *skeu̯d-, 2. *skeu̯d- und *seu̯d-, 3. *skeu̯d- und *skeu̯-d-. Im letzten Fall ist der Anschluss an gr. skeũos n. „Ge­rät, Rüstung“, anord. heyja, aengl. hegan „ausführen“ sowie aksl. ‑kutiti „ausschmücken“ (IEW s.v. 1. (s)keu-) zu erwägen.
Benennungsmotiv für die Bezeichnung im Wortfeld „Haus“ ist: <RESULTAT AUS: Auf­bau>.

Adelung, Johann Christoph 2004: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Elektronische Volltext- und Faksimile-Edition nach der Ausgabe letzter Hand. Leipzig, 1793–1801. Berlin: Directmedia. (Digitale Bibliothek; 40). Online unter: http://woerterbuchnetz.de/Adelung.
DWb: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Kluge, Friedrich 2002: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter, s.v. Geschoß.
IEW: Pokorny, Julius 2002: Indogermanisches etymologisches Wörterbuch. 2 Bde. 4. Aufl. Bern, Stuttgart: Francke.
Lexer: Lexer, Matthias von 1992: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1872–1878. Stuttgart: Hirzel. Auch in: Burch, Thomas/Fournier, Johannes/Gärtner, Kurt (Hgg.) 2002: Mittelhochdeutsche Wörterbücher im Verbund: CD-ROM und Begleitbuch. Stuttgart: Hirzel, 2002. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
LIV: Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb. von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2., erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert-Verlag, s.v. *(s)keu̯d-.
Lühr, Rosemarie 2000: Die Gedichte des Skalden Egill. Dettelbach: Röll. (Jenaer indogermanistische Textbearbeitung; 1), S. 18.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl., s.v. Geschoß.

Autorin: Bettina Bock