Bescheidenheit
Bescheidenheit f. „bescheidenes Wesen, bescheidene Art; Genügsamkeit, Anspruchslosigkeit“ (Singulare tantum). Basis für die Abstraktableitung ist das ursprüngliche Partizip bescheiden, das die alte Form anstelle unsere heutigen beschieden in dem starken Verb bescheiden, beschied war. Das Verb bescheiden bedeutet als Transitivum „eine Nachricht geben, eine Entscheidung mitteilen, etwas zuteilen, an einen bestimmten Ort bestellen“, als Reflexivum „sich begnügen, sich mit etwas zufriedengeben“. Es ist ab dem Mittelhochdeutschen bezeugt: mhd. bescheiden st.V. „trennen, unterscheiden, erzählen, benachrichtigen, entscheiden,bestimmen, zu-, anweisen“, reflexiv „sich entscheiden, sich einrichten“; dazugehört noch mndd. beschēden. Das Verb bescheiden war und ist auch ein geläufiges Wort der alten Rechtssprache (z.B. in abschlägig bescheiden). Es ist mit dem Präfix be- von dem Verb scheiden „trennen“ gebildet. Die alte Form des Part. Prät. ist in bescheiden „genügsam, anspruchslos, nicht eingebildet, einfach, gering, mäßig“, mhd. bescheiden „bestimmt,festgesetzt, deutlich, einsichtsvoll, verständig, mäßig, rücksichtsvoll“ erhalten (vgl. etwa mhd. der bescheiden tac „der festgesetzte Tag“, mhd. bescheidene worte „entschiedene Worte“). Im Frühneuhochdeutschen entwickelt sich bescheiden einerseits zu „unscheinbar, gering“ (16. Jh.), z. B. ein bescheiden Kleid, andererseits zu „genügsam, schlicht, mäßig“,oft mit dem Nebensinn „rücksichtsvoll, höflich“. Davon sind nun Bescheidenheit f. „Genügsamkeit, Anspruchslosigkeit“, mhd. bescheidenheit „Verständigkeit, Vernunft, Mündigkeit, richterliche Entscheidung“, dann „das für die Bedürfnisse Ausreichende“ (15. Jh.) abgeleitet. Das zugrunde liegende starke Verb scheiden (schied, geschieden) ist in got. skaidan (skaiskaid, Part. Prät. skaidan), ahd. sceidan (sciad, gisceidan), mhd. scheiden (schiet, gescheiden) bezeugt und weist auf eine urgerm. Form *skaid- < uridg. *skoit-. Es gehört wohl zur indogermanischen Wurzel *sk(h)eid- (LIV² 547f.), wobei der germanische Auslaut Probleme bereitet.
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Autorinnen: Bettina Bock und Sabine Ziegler