Etymologie

Besonnenheit

Besonnenheit f. „Umsicht, besonnenes Verhalten“ist erst seit dem Frühneuhochdeutschen belegt: Die Besunnenheit was derGenieß des Helden (Theuerd.Kap. 30). Es handelt sich dabei um ein Abstraktum zu dem Partizip besonnen von (sich) besinnen „nachdenken, überlegen“, das seit demMittelhochdeutschen belegt ist, vgl. ich bin niht sô besunnen daʒ ichgesprechen künn dar zuo „ichbin nicht so verständig, dass ich mich dazu äußern kann“ (g. frau 2294, BMZ s.v. besunnen). Das starke Verb (sich)besinnen (besann, besonnen) ist ein Präfixkompositum vondem starken Verb sinnen (sann, gesonnen), ahd. sinnan.Zu dieser Wortsippe gehören im Deutschen noch besinnlich „nachdenklich, beschaulich“, mhd. besintlīche Adv. „mit Überlegung“ (mit unorganischem -t-), frnhd. besynnlich (16. Jh.). Zugurnde liegt ahd. sin st. m. (a-Stamm, 9. Jh.) „Sinn, Verstand,Vernunft, Geist, Gemüt, Gedanke, Einsicht, Erkenntnisart, Bedeutung, Verlangen,Herz, Besinnung, Absicht“ (vgl. mndl. sin, nl. zin) hat dreiErklärungen:
1. Verbalabstraktum urgerm. *sen(þ)na- zuahd. sinnen st.„sinnen, streben, verlangen“ (9. Jh.) <urgerm. *sen(þ)nan, *sen(d)nan,einer sekundären Verbalbildung zur Wurzel uridg. *sent- „wahrnehmen“; diese Wurzel ist durch lat. sentiō „nehme wahr, fühle“ und lit.žemait. sintti „sich entschließen“sowie aksl. sęštь „klug“ bezeugt. Ahd. sinnan „gehen, sich begeben, kommen“, got. sandjan, ahd. senten „senden“(uridg. Kausativ mit der Bedeutung *„jemanden wohin gehen lassen“) sowie Nominalbildungen der Bedeutung „Weg“wie ahd. sind „Weg, Richtung, Seite“oder air. sēt „Weg“ weisen auf eine homophone Wurzel uridg. *sent- „einen Weg einschlagen, gehen“.Morphologische Einwände gegen die Verbindung erhebt Lühr 1976: 90, Endnote 44.Die Versuche, beide Wurzeln semantisch zu verbinden, sind auch nichtüberzeugend: So heißt es bei Pfeifer s.v. sinnennur, dass sich das Verb auf „ie. *sent- „eine Richtung nehmen, gehen“, übertragen„empfinden, wahrnehmen“ […] zurückführen läßt. Als Ausgangsbedeutung für dieheute allein geltende übertragene Verwendung ist „seine Gedanken in eineRichtung gehen lassen, sie auf etwas richten“ anzusetzen.“ Skeptischer sindZehnder im LIV, der anmerkt „Vermittlungsversuche gehen etwa über‚eine Richtung nehmen‘ → ‚(Wild)nachgehen‘ → ‚aufspüren‘ → ‚bemerken‘ (→ ‚fühlen)‘“, sowieALEW II: 916 f. mit der Bemerkung „Trennung dieser semantisch abweichendenVerben bleibterwägenswert“.
2.Verbalabstraktum urgerm. *sinna- zu ahd. sinnen <urgerm. *sinnan, einerVerbalbildung zur Wurzel uridg. *senh2-„erlangen, erwischen“ (mit Resonantengemination duchLaryngal, Lühr 1976: 80 f.).
3.Kontamination deslautgesetzlichen *sinnan mitFortsetzern von uridg. *sent-.

Literatur:
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Autorinnen: Bettina Bock und Sabine Ziegler