Etymologie

Ding2

Ahd. ding n. „Gerichtstag; Gerichtsort; Gericht; Rechtssache“, mhd. dinc „Gerichts­verhandlung, Gericht, Gerichtsstätte, Rechtssache; Ding, Gegenstand“, frnhd. ding, änhd. und nhd. Ding mit sekundärer Trennung im Plural Dinge „Gegenstände“ und Dinger (abschätzig) „Personen; Gaunerstück, Verbrechen“. Ältester Beleg für den neuen Plural Dinger von 1658: Was seynd das für Dinger / es seynd gewiß gar statliche und vornehme Kerls / ich bin jo auch mit dabey? (Johann Georg Schoch, Comoedia Vom Studenten-Leben, Leipzig 1658, nach DTA; vgl. zu den Bedeutungsveränderungen und der Denotationsbreite von Ding Karg-Gasterstädt: 1958). Ahd. ding geht mit asächs. thing, afries. thing, aengl. ðing, aisl. þing „Gericht, Versammlung; Ding, Sache“ auf späturgerman. *þinga- < urgerman. *þenǥa- „bestimmter Zeitpunkt“ (mit grammatischem Wechsel) neben späturgerman. *þīχaz- < urgerman. *þenχaz- „Zeit“ (in got. þeihs „Zeit“ u.a.), zurück. Verschiedene Etymologien konkurrieren bei diesem Wort: Nach EWA II: 651 liegt eine Ableitung *tenk-ó- der nur in den germanischen Sprachen bezeugten Form *tenk- als Wurzelerweiterung von uridg. *ten- „spannen, sich dehnen“ vor. Möglicherweise ist eine Segmentierung *ten-kó- mit endbetontem -kó-Suffix wie in aind. udaká- „Was­­­ser“ oder putraká- „Kindchen; Sohn“ vorzuziehen, so dass *ten-kó- dann etwa „kleine Spanne (an Zeit)“ be­deutet haben könnte. Vielleicht wurde das -k- ausgehend von diesem Substantiv auf an­dere germanische For­men übertragen. Kroonen 2013: 542 rekonstruiert dagegen eine uridg. Wurzel *tenk- „passend sein“, die in urgerman. *þenhan- > späturgerman. *þīhan- st.v. „gedeihen, blühen“ (u.a. in got. þeihan, aengl. þēon, nhd. ge-deihen) fortgesetzt ist, und stellt urgerman. *þenga- dazu; die Semantik bleibt aber unklar (Kroonen 2013: 542 gibt im Artikel *þinga- als Bedeutung für die Wurzel *þinhan- „to be suitable“ an, im Artikel *þinhan- selbst jedoch „to thrive, prosper“). Die Wurzel *tenk- wird in LIV²: 625f. und Kloekhorst 2008: 824f. wegen heth. tame(n)kzi „anheften, anschmiegen“ als *temk- mit der Bedeutung „fest werden, ge­rinnen“ rekonstruiert;  dieser Ansatz ist aus phonetischen Gründen jedoch unwahrscheinlich (vgl. dazu die Ausführungen in García Castillero 2005). Zahlreiche semantische Parallelen sprechen für die Ver­bin­dung mit der uridg. Wurzel *ten- „spannen, dehnen“: Air. tan ā, f. „Zeit, Zeit­punkt“ (< kelt. *tanā- < uridg. Transponat *tn-eh2-, feminines Abstraktum zur Wur­­zel *ten-), lat. tempus n. „Zeit“ (zur uridg. Wurzel *temp- „spannen, dehnen“), nhd. Zeitspan­ne, nengl. span u.a. „Zeitabschnitt“, beide zum urgerman. Verb *spannan- „spannen, dehnen“. Hierher gehört noch das Kompositum ahd. tagading, tagoding, tegiding n. „Termin, Frist, festgesetzter Tag; Übereinkunft; Aufschub, Waffenstillstand; Gericht“, mhd. tagedinc, tegedinc, teidinc m., n., f. „Entscheidung, gerichtliche Ver­handlung; Übereinkunft; Kampf“, frnhd. teiding, änhd. Teiding. Davon ist das ahd. Verb gitagadingōn „übereinkommen, einen Tag bestimmen; verschieben, vertagen“, mhd. tagedingen, tegedingen, teidingen „vor Gericht verhandeln, eine Übereinkunft treffen“, frnhd. teidingen und teidigen „dss.“ abgeleitet. Davon ist das Präfixverb mhd. vertagedingen, verteidingen „vor Gericht ziehen; verhandeln, vor Gericht verteidigen“ gebildet, das im Frühneuhochdeutschen Kontraktion von ‑age- zu -ei- und Nasalausfall zeigt. Zu Verteidiger s. dort.

Literatur:
De Vaan, Michiel 2008: Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages. Leiden, Boston: Brill. (Leiden Indo-European Etymological Dictionary Series 7).
García Castillero, Carlos 2005: „Bilabialer Nasal vor velarem Verschlusslaut im Urindogermanischen?“ HS 118: 3-18.
Goebel, Ulrich/Reichmann, Oskar 1986–: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Begr. von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann. Bd. 1–. Berlin u.a.: de Gruyter.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Karg-Gasterstädt, Elisabeth u.a. 1952–: Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftr. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bd. 1–. Berlin: Akad.-Verl.
Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Kroonen, Guus 2013: Etymological Dictionary of Proto-Germanic, Leiden-Boston: Brill.
Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Matasović, Ranko 2009: Etymological Dictionary of Proto-Celtic. Leiden & Boston: Brill. 
Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1866. Online auch unter http://woerterbuchnetz.de/BMZ/
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl.
Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb. von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2., erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix. Wiesbaden: Reichert.
 
Autorin: Sabine Ziegler