Etymologie

Galle

Galle
Ahd. galla f. n‑St. „Gallensaft“, mhd. galle, nhd. Galle; as. galla, mndd. galle, anfrk. galla „Gallensaft; Bitternis, Schlechtigkeit“ gehen auf einen fem. n‑Stamm urgerm. *ǥallōn‑ „Gallensaft“ zurück. Daneben ist in ae. gealla m., aisl. gall n. ein ursprünglicher a‑Stamm urgerm. *ǥalla‑ fortgesetzt. Nach EWA 2009: 29f. weist das Nebeneinander der Stämme auf den sekundären Antritt des individualisierenden *‑n‑Suffixes an einen ursprünglichen a‑Stamm urgerm. *ǥala‑. Mit Suffixablaut ergab sich daraus urgerm. *ǥalan‑ und *ǥaln‑ mit Assimilation von ‑ln‑ zu ‑ll‑ (Lühr 1988: 202).
Bis zur Rezeption arabischer oder über das Arabische vermittelter griechischer medizinischer Texte in der Renaissance galt die Gallenblase als ein Teil der Leber (Hyrtl 1879: 100 ff.); das Wort Galle bezeichnete zunächst nur den Gallensaft, und das zeigt sich auch an der Etymologie dies Wortes:
Außergermanisch wird germ. *ǥalla‑ mit griech. χόλος [khólos] m. „bitterer Hass, Zorn; Galle“ < idg. *ǵhólo‑ und griech. χολή [kholê] f. ds. < *ǵholéh2‑ verglichen (Pfeifer 1993: 392; Kluge/Seebold 2011: 329). Problematisch ist dabei aber das zugehörige Adjektiv griech. χλωρός [khlōrós] „grüngelb“, das einen Reflex von *h3 zeigt und von einer Ableitung von einer Setwurzel *ǵhl̥h3‑ stammt (Beekes 2010: 1638f.). Auch die Akzentuierung von lit. tulžìs „Galle“ (mit Metathese für *žultìs und mit *‑t‑Erweiterung) weist auf eine laryngalhaltige Basis, für e‑stufiges aksl. zlьčь „Galle“ (mit *‑k‑Erweiterung, wozu EWA 2009: 30f., wo auch die weiteren slawischen Fortsetzer behandelt sind) ist sie immerhin möglich, ebenso für jav. zāra‑ „Galle“ < *ǵhólh3o‑, wenn man mit Hoffmann/Forssman 1996: 56 den Langvokal für sekundär hält. Zugehörig, aber für die Laryngalfrage nicht aussagekräftig sind die mit r‑Suffix abgeleiteten keltischen Fortsetzer ir. kymr. korn. galar „Krankheit, Trauer“. Man müsste also entweder den Laryngal als eine Art Wurzelerweiterung erweisen oder eine Ratio für einen sekundären Laryngalschwund finden. Beides ist bislang nicht möglich. Mallory/Adams 1997: 217 und Kluge/Seebold 2011: 329 erwähnen das Laryngalproblem nicht und setzen eine Wurzel *ǵhel „gelb“ an, Pfeifer 1993: 392 und EWA 2009: 30f. begnügen sich mit den Ansätzen *ǵhel(ǝ)‑ bzw. *ǵhel(h3)‑.
Strittig ist ferner die Zugehörigkeit von lat. fel, fellis n. „Galle“, weil der Anlaut *ǵh im Lateinischen ein h‑ hätte ergeben müssen. Man muss also, wenn man das Wort dennoch anschließen möchte, mit einer irregulären Dialektvariante rechnen (de Vaan 2008: 209; Beekes 2010: 1642). Andernfalls ist lat. fel fernzuhalten und könnte dann mit Driessen 2003: 287ff. mit lat. flāvus „gelb, blond“ < *bhleh3u̯o‑ zusammengebracht werden (de Vaan 2008: 225). Die Wurzel für die „Galle“-Wörter wiederum ist möglicherweise in lat. holus n. „Kohl, Kraut, Gemüse“ fortgesetzt (Beekes 2010: 1642).
Morphologisch wird der primäre o‑Stamm *ǵhól(h3)o‑ auf eine Verbalwurzel uridg. *ǵhel(h3)‑ „gelblich, grün sein“ zurückgeführt (EWA 2009: 30). Als einzelsprachliche Fortsetzung gilt lit. žélti „sprießen“. Doch ist diese Herleitung umstritten: Nach EWA 2009: 30 ist die Wurzel einzelsprachlich nicht fortgesetzt, Beekes 2010: 1642 hält die Zugehörigkeit von žélti „sprießen“ dagegen für möglich. Mallory/Adams 1997: 217 setzen statt der Verbalwurzel ein primäres Adjektiv *ǵhel‑ [sic] „gelb, braun“ an. Bei alledem steht dennoch außer Frage, dass die Galle nach ihrer grün-gelben Farbe benannt ist, fraglich ist lediglich, ob das grundsprachliche Adjektiv primär oder abgeleitet ist. Nun kann man generell sagen, dass zuständliche Farbverben des Typs „gelblich, grün sein“ kaum in Sprachen vorkommen, die über die Kategorie Adjektiv verfügen, und für das Urindogermanische ist diese Kategorie schon deshalb vorauszusetzen, weil die einzelsprachlichen Graduierungsmorpheme auf ein uridg. *‑i̯es/i̯os‑ zurückgehen. Andererseits wird der ‑e/o‑Ablaut bei dieser Wurzel als o‑stufiger Nominalableitung neben e‑stufiger Verbalwurzel leichter nachvollziehbar als wenn man mit einem ablautenden Primäradjektiv rechnen muss. Fraglich ist also weniger die verbale Basis als solche als vielmehr die grundsprachliche Verbbedeutung. Und einen Bedarf für ein einschlägiges Farbverbum könnte es in der Tat gegeben haben, nämlich wenn die Bedeutung des litauischen Verbums alt ist und ursprünglich ganz konkret den Beginn der Vegetation im Frühjahr bezeichnet hat. Die ursprüngliche Bedeutung wäre demnach „sprießen, zartgrün werden“. Die Farbe der jungen Knospen kann dann relativ früh als Benennungsmotiv für den Gallensaft verwendet worden sein, der in Jäger- und Tierzüchterkulturen eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat, denn wenn man beim Schlachten eines Tieres die Gallenblase verletzt, wird das ganze Fleisch ungenießbar.
Die Verschiebung der salienten Benennungsmerkmale dürfte demnach von <sprießen> für die Frühjahrsknospen über <gelbgrün> für den Gallensaft verlaufen sein. Dazu kam das Motiv <bitter> hinzu, das spätestens seit der hippokratischen Säftelehre untrennbar mit dem Begriff der „Galle“ verbunden ist.

Beekes 2010: Robert S.P. Beekes, Etymological dictionary of Greek, Leiden: Brill.
EWA 2009: Albert L. Lloyd/Rosemarie Lühr, Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen Band IV: gâba - hylare, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Driessen 2003: Michiel Driessen, „Evidence for *ǵhelh2-, a new Indo-European root“, in: Journal of Indo-European Studies 31, 279-305.
Hoffmann/Forssman 1996: Karl Hoffmann/Bernhard Forssman, Avestische Laut- und Flexionslehre, Innsbruck: Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft.
Hyrtl 1879: Das Arabische und Hebräische in der Anatomie, Wien: Braunmüller.
Kluge/Seebold 1989: Elmar Seebold, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 22. Auflage, Berlin/New York: de Gruyter.
Lühr 1988: Rosemarie Lühr, Expressivität und Lautgesetze im Germanischen, Heidelberg: Winter.
Mallory/Adams 1997: James P. Mallory, Douglas Q. Adams, Encyclopedia of Indo-European culture, London/Chicago: Fitzroy Dearborn Publishers.
Pfeifer 1993: Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2. Auflage, Berlin: Akademie-Verlag.
de Vaan 2008: Michiel de Vaan, Etymological dictionary of Latin and the other Italic languages, Leiden: Brill.