Etymologie

Kerze

Kerze hat heute die Bedeutungen „meist zylindrisches Gebilde aus gegossenem Wachs o.Ä. mit einem Docht in der Mitte, der mit offener Flamme brennend Licht gibt; Zündkerze; (Turnen) Übung mit Nackenstand; (Fußball, Jargon) steil in die Höhe geschossener Ball“ (nach Duden s.v. Kerze). Im Frühneuhochdeutschen ist jedoch auch die Bedeutung „Zunft“ belegt, wie der folgende Gebrauch als Kohyponym neben innung zeigt: wer … anderswo gelernt hat und alhir meister werden wil, sal … beweisen, das her in einer stadt, do man kerzen und innunge hildet, gelernt habe (1507 KahlaUB. 111, DRW s.v. Kerze). Das althochdeutsche Wort kerza (kherza, cherza, kirza) sw. f. (jōn- Stamm) „Kerze; Docht“ (8. Jh.) ist nach EWA s.v. kerza aus mlat. chartea (Sg.f. von charteus „aus Papyrus“) entlehnt, einer Zugehörigkeitsbildung zu mlat. charta „Papyrus, Pergament(blatt), Urkunde“, lat. c(h)arta „ein Blatt von der ägyptischen Papyrusstaude, Papier“. Das ist seinerseits entlehnt aus griech. χάρτη (khártē) f. „Papyrusblatt, Rolle aus Papyrusblättern“, einer jüngeren Variante von griech. χάρτης (khártēs) m., oder Übernahme von χάρτης (khártēs) m. mit Überführung in die feminine a-Deklination des Lateinischen wie auch im Fall von lat. cochlea f. < griech. κοχλίας (kokhlías) m. „Schnecke; Wendeltreppe“. Nach Beekes 2009: 1616 ist dies „probably from Egypt, like the papyrus plant itself“.
Als mögliche altägyptische Grundlage ist sxr.t „Bündel von Papyrusrollen“ (TLA s.v. sxr.t) mit Apokope des anlautenden s im Griechischen erwä­gens­wert. Vergleichbar ist griech. smikrós neben mikrós „klein“. An das altägyptische Feminin-Suffix -t wurde eine griechische Endung angefügt. Aus lat. c(h)arta ist noch ahd. karz „Docht“ entlehnt. Der innergermanische Bedeutungswandel von „Papyrus usw.“ zu „Docht“ erklärt sich wohl daraus, dass das Mark des Papyrus für Kerzendochte verwendet wurde.
Ahd. kerza findet in mhd. kerze seine Fortsetzung. Entsprechungen in der Germania sind: nndl. kaars, nnorw. kjerte, nisl. kerti, ndän. kerte. Die nordgermanischen For­men sind möglicher­weise aus dt. Kerze mit Rückverschiebung des z (DWb s.v. Kerze) entlehnt. Ein vergleichbares Beispiel ist etwa mhd. stolz, das als stoltz im 13. Jh. ins Isländische entlehnt und dann zu stoltr rückverschoben bzw. an isländische Wortstrukturen angepasst wurde, vgl. Magnússon 1989: 966 s.vv. stoltur und stolz. Wahrscheinlicher ist aber Entlehnung aus mndd. kerte f.
Da die Zünfte auch religiöse Gemeinschaften waren und diese insbesondere beim Tod eines Zunftgenossen oder seiner Angehörigen in Erscheinung traten, waren Kerzen Bestandteile von Leichenfeiern, vgl.: ez sol iglicher meister zuo dem leichtuoech und zuo den chertzen ein diu zunft geben vierundzwainzich dn (um 1300 MünchenStR.[Dir] 286, DRW s.v. Kerze). Daraus entstand folgender Gebrauch: wan wir zusamen gefordert werden zu dem hantwerk …, welcher aussen bleibt on redeliche ursache, der sol dem hantwerk verfallen sein 15 (pfennig) an die kertzen (1475 WürzbPol. 157, DRW s.v. Kerze). Durch Metonymie erfolgte der Bedeutungswandel zu „Zunft“. Das Benennungsmotiv ist also die religiöse Gemeinschaft, in der Kerzen eine bedeutende Rolle spielen.

Beekes, Robert S.P. 2009: Etymological Dictionary of Greek. Amsterdam: Brill.
DRW: Deutsches Rechtswörterbuch. http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/.
Duden: Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hg.) 2000: Duden – Das große Wörterbuch. Mannheim: Verlag Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG. CD-ROM auf der Basis der 3., völlig neu bearb. und erw. Auflage der Buch-ausgabe in 10 Bänden (1999).
DWb: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Ernout, Alfred/Meillet, Antoine 1985: Dictionnaire étymologique de la langue latine: histoire des mots. 4. ed. Paris: Klincksieck, s.v. c(h)arta.
EWA: Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Kluge, Friedrich 2002: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter, s.v. Kerze.
Magnússon, Ásgeir Blöndal 1989: Íslensk Orðsifjabók. Reykjavík: orðabók Háskólans.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl., s.v. Kerze.
TLA: Thesaurus linguae Aegyptiae. http://aaew.bbaw.de/thesaurus-linguae-aegyptiae.

Autorinnen: Bettina Bock/Sabine Ziegler