Etymologie

Niere

Niere
Ahd. nioro m. „Niere, Hode“, mhd. nier(e) m., nhd. Niere f., mndd. nere, mndl. ni(e)re < germ. *neura/ōn‑ „Niere“, virtuell < idg. *negu̯hron‑ (Kroonen 2013: 389), weiterhin mit j‑haltigem Suffix aisl. nýra n., schwed. njure < germ. *neurjan‑ (Pfeifer 1993: 925). Das Wort ist außergermanisch verknüpfbar mit griech. νεφρός [nephrós] m. „Niere“ < idg. *negu̯hro‑ (Beekes 2010: 1012); die exakte Gleichung mit lat. nefronēs m.Pl. (Praeneste) „Hoden“ < *negu̯hron‑ kann auf unabhängiger Parallelentwicklung beruhen. Die Form nebrundinēs m.Pl. (Lanuvium) weist noch eine zusätzliche Dentalerweiterung auf (de Vaan 2008: 404f.). Das feminine Genus im Nhd. beruht auf Reanalyse aus dem Plural.
Die weitere Analyse des grundsprachlichen Wortes ist schwierig. Mallory/Adams 1997: 329 setzen *(h1)negu̯hros an und verknüpfen das Wort mit einer der vielen idg. „Schwell“-Wurzeln *h1eng‑ [sic], obwohl es keinerlei Evidenz für einen Anlautlaryngal gibt und alle Fortsetzer eindeutig auf einen aspirierten Labiovelar weisen; das LIV kennt im Übrigen auch keine solche Verbalwurzel.
Pfeifer 1993: 925 verweist auf Anschlüsse an die Wurzel idg. *sneu̯‑ „hervorquellen lassen, tropfen“ (LIV 1998: 522f.), was zwar semantisch für ein Ausscheidungsorgan durchaus passen würde, morphologisch aber ausgeschlossen ist, da es kein Nominalsuffix *‑gu̯h‑ gibt.
Im Idg. konkurriert *negu̯hro‑ mit dem in lat. rēnes m.Pl. „Nieren“ fortgesetzten *h2rēn‑ (de Vaan 2008: 519). Bei beiden Wörtern kommen einzelsprachlich sowohl die Bedeutung „Hoden“ als auch „Niere“ vor, so dass eine Entscheidung über die grundsprachliche semantische Zuordnung nicht möglich ist. Dass *h2rēn‑ das ältere und periphere, *negu̯hro‑ das jüngere und zentrale Wort gewesen sei, wie Mallory/Adams 1997: 329 vermuten, ist möglich, aber schwer beweisbar und löst auch die Frage nach der Semantik nicht. Das grundsprachliche Benennungsmotiv bleibt demnach unklar.

Beekes 2010: Robert S.P. Beekes, Etymological dictionary of Greek, Leiden: Brill.
LIV 1998: Helmut Rix u.a., Lexikon der indogermanischen Verben. Die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen, Wiesbaden: Reichert Verlag.
Kroonen 2013: Guus Kronen, Etymological dictionary of Proto-Germanic, Leiden: Brill.
Mallory/Adams 1997: James P. Mallory, Douglas Q. Adams, Encyclopedia of Indo-European culture, London/Chicago: Fitzroy Dearborn Publishers.
Pfeifer 1993: Wolfgang Pfeifer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, 2. Auflage, Berlin: Akademie-Verlag.
de Vaan 2008: Michiel de Vaan, Etymological dictionary of Latin and the other Italic languages, Leiden: Brill.