Etymologie

Notwehr

Notwehr f. „Gegenwehr, deren an sich strafbare Folgen straffrei bleiben, weil man durch tätliche, gefährliche Bedrohung dazu gezwungen worden ist“, mhd. nôtwer f., mndd. nôtwere f., mndl. noodwere f., altfries. nedwere, nedwiri f. ersetzt gegen EWD s.v. Notwehr nicht älteres mhd. lībwer „Abwehr einer Lebensgefahr“, da dieses erst drei Jahrhunderte später bezeugt ist (Beleg von 1471: dasz er habe lîbwehr mussen thun, sîn leben zu entretten, Urkundenbuch der Reichs­stadt Frankfurt, nach Lexer).
Der früheste ermittelbare Beleg für Notwehr stammt vom Ende des 12. Jh.s. (Konrad von Fußesbrunnen, bezeugt in einer Urkunde um 1182: si werten lîp unde guot, sô der bil­lîchen tuot der beidiu reht unt ellen hât unt man in nôtwer niht erlât, nach DRW s.v. Notwehr), die erste Definition aus dem Jahre 1221 lautet de­fen­sio proprii corporis i.e. notwer (Die Rechtsquellen der Stadt Wien, nach DRW s.v. Notwehr). Notwehr ist ein Determinativkompositum „Abwehr einer Zwangslage“ aus Not f. < ahd. nōt st.m. und st.f. (i-Stamm) „Zwang, Gewalt, Bedür­fnis, Not, Notwen­dig­keit, Notlage, Bedrängnis, Bedarf, Be­dürf­tig­keit, Hilflosigkeit, Ent­behrung, Ge­fahr, Verfolgung, Kampf, Gericht, Pein, Qual, Angst, Trübsal, Drang­sal, Kürze, Hef­tigkeit, Eifer, Gewissheit, Grund“ und Wehr f. < ahd. werī st.f. „Ab­wehr, Verteidi­gung, Waffe, Gegenwehr, Verteidigungs­mittel, Schutzvorrichtung, Schutz­­wehr“. Möglicherweise ist die konkrete Bedeutung „Abwehrwaffe“, die im Mhd. nachweisbar ist (siehe unten), die ältere angesichts der anderen alt­hochdeutschen Komposita mit ‑werī, die alle Konkreta bezeichnen: Instrumente sind ahd. brustwerī „Brustwehr, Brustschild“, fliogūnwerī „Fliegenwedel, Fliegenklatsche“, und sciltwerī „Schildwehr, Schilddach“; ahd. lantwerī bezeichnet die aus Personen bestehende „Landwehr, Landesverteidigung“. 
Im Mittelhochdeutschen bezeichnet nôtwer auch das Tatwerkzeug: wirt er [der einen zu tôde geslagen hat] begriffen in der hanthaften tât, man sol ime die nôtwer binden in sîn hant, dâ er den schaden mit getân (um 1348, Zwickauer Rechtsbuch III 18, nach DRW s.v. Notwehr). Das Antonym zu Notwehr, mhd. unnôtwer (z.B. daʒ er die manslek von unnôtwer begangen hab, Hainburger Handfeste, Handschrift 14. Jh., Vorlage 13. Jh., nach BMZ), bezeichnet bei einer Tötung, dass ein Grund für Not­wehr nicht gegeben ist.
Notwehr ist wahrscheinlich eine Lehnüber­setzung aus lat. dēfēnsio necessāria "notwendige Verteidung". Die Notwehr gilt im römischen Recht als legitim, vgl. Digesten 9, 2, 4 pr.: Itaque si servum tuum latronem insidiantem mihi occidero, securus ero: nam adversus periculum naturalis ratio permittit se defendere (http://droitromain.upmf-grenoble.fr/, gesehen am 29.07.2014). Die Kollokation dēfēnsio necessāria ist im römischen Recht nur in einem Beleg nachweisbar: Si quidem intentionem actoris probatione deficere confidis, nulla tibi defensio necessaria est (Codex Iustinianus liber 8, 39, 5; http://droitromain.upmf-grenoble.fr/Corpus/CJ8.htm, gesehen am 29.07.2014). 
Die ahd. nōt st.m. und st.f. (i-Stamm), mhd. mndd. nōt, asächs. nōd, mndl. noot, nndl. nood, aengl. níed, nēd, engl. need, afries. nēd, nād und got. nauþs f. sowie anord. nauð f. < urgerman. *náuþi- oder nauðí- (so Magnússon 1989: 660, Kroonen 2013: 385 gibt nur nauþi- an; zur genauen Herleitung der Formen *náuþi- und nauðí- ohne und mit Verners Gesetz siehe Schaffner 2001: 476ff.), ein altes -ti-Ab­straktum uridg. *néh2u-ti- oder *neh2u-tí- (so Kroonen 2013: 385; anders Schaffner 2001: 478f., der einen Ansatz *náhx-ti-, Gen. *nahx-té-s mit grundstufigem *a und Verallgemeinerung der Vollstufe für zu erwartendes *nuhx-té-s bevorzugt) wie auch apreuß. nautin „Not“ (Akk. Sg.) vorausgehende Wurzel uridg. *neh2- hatte etwa die Bedeutung „Angst haben, ängstlich sein“; vgl. aksl. unyti, unyjǫ „erschlaffen, verzweifeln“, atschech. nýti, nyju „leiden, schmachten“ < urbaltoslaw. *n- mit Laryngalmetathese aus < uridg. *nh2u- (Derksen 2008: 360, ALEW s.v. nõvyti). Diese Wurzel ist möglicherweise eine Neo-Wurzel aus einem u-stämmigen Adjektiv *neh2-u- „ängstlich“, das von der uridg. Wurzel *neh2- „in Angst geraten“ (in heth. nāh-i/nahh-i Kloekhorst 2008: 591f.; LIV²: 449) abgeleitet ist, wie z.B. heth. tepu- „gering“ < uridg. *dhebh-u- von einer uridg. Wurzel dhebh- „vermindern“ (Kloekhorst 2008: 869; LIV²: 132f; siehe auch die Bemerkungen in LIV²: 685 Anm.1 zum griech. Verb érymai „schützen“, dem ebenfalls ein u-st. Adjektiv zugrunde liegt). Die u-haltige Form ist auch in keil­schrift­luw. nahhuwa- „sich sorgen um“ und nahhuwassa/i- „ängstlich“ aus *noh2u-° oder *neh2u-° belegt. Mögli­cher­weise gehören auch die Wörter für „Leichnam; Tod“ (uridg. *néh2-i-, *nh2-é- in got. naus m. „Leichnam“, lett. nâve „Tod“; lit. nõvė f. mit der Bedeu­tung „Bedrängnis, Qual, Plage“ ist wahrscheinlich deverbal) sowie die Verben lit. nõvyti „töten, er­morden“ < uridg. Kausativ *noh2-ee/o- hierher (vgl. zu diesen Ausführungen Kroonen 2013 s.vv. nawi-, nauþi-; ALEW s.v. nõvyti). 
Wehr f. < ahd. werī st.f. „Abwehr, Verteidi­gung, Waffe, Gegenwehr, Schutz­­vorrichtung“, mhd. wer(e) „Verteidigung, Kampf, Widerstand, Weigerung, Heer, Waf­­fe, Befestigung“, mndd. mndl. wēre „Widerstand, Verteidigung, Schanze, Waffe“ und mit anderer Ableitung anord. verja „Verteidigung, Verwahrung“ zeigen die gleiche Ablautstufe wie urgerman. *warjan- „(ab)wehren, sich verteidigen“, ein Kau­­sativ uridg. *(h2)or-ée/o- zur auch in anderen indogermanischen Sprachen gut bezeugten Wurzel *(h2)er- „aufhalten, abwehren“ (LIV²: 684f.; zum Ansatz mit Laryngal s. Lubotsky 2000).

Literatur:
ALEW = Hock, Wolfgang (Hrsg.): Altlitauisches Etymologisches Wörterbuch. Im Druck. Heidelberg: Winter.
Derksen, Rick 2008: Etymological Dictionary of the Slavic Inherited Lexicon, Leiden-Boston: Brill. 
DRW = Deutsches Rechtswörterbuch, online unter http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/. 
Goebel, Ulrich/Reichmann, Oskar 1986–: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Begr. von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann. Bd. 1–. Berlin u.a.: de Gruyter.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Karg-Gasterstädt, Elisabeth u.a. 1952–: Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftr. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bd. 1–. Berlin: Akad.-Verl.
EWD = Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Kloekhorst, Alwin 2008: Etymological Dictionary of the Hittite Inherited Lexicon. Leiden: Brill.
Kroonen, Guus 2013: Etymological Dictionary of Proto-Germanic, Leiden-Boston: Brill.
Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Lubotsky, Alexander M. 2000: „The Vedic root v- ‘to cover’ and its present“. In: Bernhard Forssman/Robert Plath, Indoarisch, Iranisch und die Indogermanistik: Arbeitstagung der IG in Erlangen, Wiesbaden: Reichert, 315-325. 
Magnússon, Ásgeir Blöndal 1989: Íslensk Orðsifjabók. Reykjavík: Orðabók Háskólans 
BMZ = Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1866. Online auch unter http://woerterbuchnetz.de/BMZ/
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl.
LIV = Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb. von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2., erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix. Wiesbaden: Reichert.
Schaffner, Stefan 2001: Das Vernersche Gesetz und der innerparadigmatische grammatische Wechsel des Urgermanischen im Nominalbereich. Innsbruck: Inst. für Sprachen und Literaturen. (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 103) 
http://droitromain.upmf-grenoble.fr/ 

Autorin: Sabine Ziegler