Etymologie

Prozess2

Prozess m. „vor einem Gericht ausgetragener Rechtsstreit“ ist ab dem 14. Jh. in einem einzigen Beleg aus spätmhd. Zeit, dann aber häufig in frnhd. process „Ordnung des Gerichtsverfahrens; Anordnung, Vorladung“ bezeugt und aus mlat. processus „ge­richtliches Vorgehen, Rechts­handlung, gerichtliche Entscheidung, Gerichtsverfah­ren“, auch allgemein „Handlungsweise, Vorgehen“ und somit letztlich aus lat. prōcessus, -ūs „das Vorwärts-, Fortschreiten, Verlauf, Wachstum“, Verbalabstraktum zu lat. prō­cēdere „vorwärts gehen, vorankommen, Fortschritte machen, vonstatten gehen“ ent­lehnt. Die Basis des lateinischen Präfixverbs prōcēdere, lat. cēdere „gehen, treten; vonstatten gehen, Erfolg haben; fortgehen, weichen, nachgeben, zurücktreten“, weist auf eine urital. Form *kesd-e/o-. Dieses Verb wird von Lubotsky 2004 (ihm folgt de Vaan 2008: 103ff.) auf eine uridg. Wur­­zel kesdh- (mög­­licherweise aus einem älteren Kompositum *kes-dhh1-) „weg­treiben, weggehen“ zurückgeführt, die in aav. siiazd- „forttreiben, verscheuchen, fern­halten, verbannen“ vor­­liegt.
Ob die altindische Wurzel sedh- „forttreiben, hemmen, abwehren“ (EWAia II: 745f.) hierher gehört, ist nach Lubotskys Ausführungen (< *syazdh- < *śyazdh- mit „sibilant harmony“, 2004: 328f.) denkbar, obwohl sich eine uridg. Lautfolge *ke- normalerweise zu aind. śya- ent­wickelt (z.B. in aind. śy-ya-ti „gefriert, erstarrt“ < uridg. *keH-e-ti; LIV²: 331f.; aind. śyāmá- „schwarz, dunkel“ < uridg. *keh1-mó-; EWAia II: 661). Auch deuten Fälle wie aind. śas- (3.Sg.Ind.Prs.Akt. śásati, -śasti) „töten“, śsa- „Befehl“, śsus- „Anordnung, Befehl“ darauf, dass die Sibilantenhar­mo­nie nicht den Status ei­ner Regel, sondern allenfalls einer Tendenz hatte. 

Literatur:
De Vaan, Michiel 2008: Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages. Leiden, Boston: Brill. (Leiden Indo-European Etymological Dictionary Series 7).
EWAia = Mayrhofer, Manfred 1992–2001: Etymologisches Wörterbuch des Altindoarischen. 3 Bde. Heidelberg: Winter.
Goebel, Ulrich/Reichmann, Oskar 1986–: Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Begr. von Robert R. Anderson, Ulrich Goebel, Oskar Reichmann. Bd. 1–. Berlin u.a.: de Gruyter.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Lexicon Mediae Latinitatis. http://linguaeterna.com/medlat/
Lubotsky, Alexander M. 2004: „Avestan siiazd-, Sanskrit sedh-, Latin cēdere“. In: Hyllested, Adam, Anders Jørgensen, Jenny Larsson and Thomas Olander (eds.), Per Aspera ad Asteriscos. Studia indogermanica in honorem Jens Elmegård Rasmussen sexagenarii Idibus Martiis anno MMIV. Innsbruck: IBS, 323-332. 
Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1866. Online auch unter http://woerterbuchnetz.de/BMZ/
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl.
Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb. von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2., erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix. Wiesbaden: Reichert.
 
Autorin: Sabine Ziegler