Etymologie

Vergewaltigung

Vergewaltigung f. „die Nötigung zum Geschlechtsverkehr oder zu ähnlichen sexu­­ellen Handlungen, die das Opfer besonders erniedrigen, wobei diese mit Gewalt, durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer dem Täter schutzlos ausgeliefert ist, erfolgen kann“; so die Definition nach Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Vergewaltigung). Der § 177 StGB lautet in Auszügen: "(1) Wer eine andere Person 1. mit Gewalt, 2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder 3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen […] Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor, wenn 1. der Täter mit dem Opfer den Beischlaf vollzieht oder ähnliche sexuelle Handlungen an dem Opfer vornimmt oder an sich von ihm vornehmen läßt, die dieses besonders erniedrigen, insbesondere, wenn sie mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind (Vergewaltigung), oder 2. die Tat von mehreren gemeinschaftlich begangen wird […]" (http://www.gesetze-im-internet.de/stgb/177.html). 
Vergewaltigung ist zuerst im Frühneuhochdeutschen – hier jedoch in allgemeiner Bedeutung „Gewalt“ – bezeugt, z.B. So ist inn dem diebstall / der mit waffen geschicht / eyner vergewal­tigung vnd verletzung zuo besorgen (Peinliche Gerichtsordnung Karls V. von 1532, art. 159; Text nach http://de.wikisource.org/wiki/Key ser_Karls_des_f%C3%BCnfften:_vnnd_des_heyligen_R%C3%B6mischen_Reichs_peinlich_gerichts_ordnung) oder man weiszt nit anders, dann ir […] habt auch darumb den Hutten bei euch, dasz ir in vor vergwaltigung des bapstes und der geistlichen schützen wölt. Satiren und Pasquille aus der Reformationszeit. Hrsg. von Oskar, Schade, Hannover 1856-58; nach DTA). Auch im Älteren Neuhochdeutschen überwiegt diese Bedeutung noch, vgl. vnd demnach in das Algauw gekrochen / zu welchem etliche der endts gesessene Praelaten mit jhrer vergwaltigung der Vnderthanen / die sie nit als Schäfflein geweydet / sondern als Hund geachtet […] (Peter Harer, Eigentliche warhafftige Beschreibung deß Bawrenkriegs, Frankfurt (Main) 1625; nach DTA).
Als erstes eindeutiges Zeug­nis für die heutige Bedeutungseinengung auf „sexuelles Gewaltverbrechen“ konnte ein Beleg von 1889 ermittelt werden: Sie empörte sich gegen die Vergewaltigung, die ihr widerfahren war, – und doch schauerte sie wie in brennender Wollust zusammen, denn sie hatte den, den sie liebte, zum ersten Male hoch über sich gefühlt […] (Hermann Conradi, Adam Mensch, Leipzig 1889; nach DTA ), daneben existierte die weiter gefasste Bedeutung z.B. noch in Er [der Richter] soll auch streng sein, wenn eine brutale Vergewaltigung der Arbeiter vorliegt (Berliner Tageblatt (Morgen-Ausgabe) 01.03.1912, nach DWDS). Reste der alten, allgemeineren Bedeutung finden sich im Gegenwartsdeutschen in Fällen wie Das nächstliegende wäre, ein Deutsch zu wählen, das der Entstehungszeit des Ori­ginals entspricht, aber das bedingte eine Vergewaltigung des eigenen Sprachgefühls und eine verschnörkelt-antiquierte Redeweise, die trotz aller Bemühungen schließlich doch nur gekünstelt und darum unlebendig wirkt (Die Zeit, 4.7.1946; nach DWDS).
Das Verb vergewaltigen im heutigen Sinne ist zuerst 1881 bezeugt: So sind A und B Mitthäter, wenn A die Frauensperson C vergewaltigt oder den D mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben bedroht und B die C mißbraucht oder dem D die Brieftasche wegnimmt (Franz von Liszt, Das deutsche Reichsstrafrecht, Berlin 1881; nach DTA). Das davon abgeleitete Nomen agentis Vergewaltiger ist seit dem 17. Jh. bezeugt: Beleg von 1659: […] folgeten der Stimme zu Fusse durch Püsche und Hecken nach / biß wir eines vornehmen wolbekanten teutschen Herrn gewahr wurden / der mit einem jungen wolgestalten / doch armselig bekleideten Bauren Mägdlein bemühet wahr / sie zu seinem unkeuschen Willen zu überwältigen / dem sie zwar nach äusserstem Vermögen wiederstund / aber gleich an dem wahr / daß sie hätte erliegen müssen / weil der Gewalttähter seinen beyden reisigen Knechten hinzu geruffen / und sie aller Kleider hatte berauben lassen . Herkules bekam sie ehe ins Gesicht als ich / sprang mit entblössetem Degen hinzu / und fragete den Vergewaltiger / ob ihm gebührete dergleichen Boßheit zu verüben (Andreas Heinrich Bucholtz, Des Christlichen Teutschen Groß-Fürsten Herkules Und der Böhmischen Königlichen Fräulein Valjska Wunder-Geschichte. Bd. 1. Braunschweig 1659, nach DTA).
Vergewaltigung galt schon wesentlich früher als Verbrechen, auf deutschem Gebiet z.B. in der lateinisch geschriebenen Lex Baiuvariorum, die im 6.-8. Jh. zusammengestellt wurde, auch wenn der Übergang zur heutigen Bedeutung erst im 19. Jh. begann. Im Althoch­deutschen wurden dafür Begriffe wie firleganī f. „Unzucht, Schändung, Entehrung“, huor n., m. „Unzucht, Schändung, Ehebruch, Vergewal­­ti­gung“, nōtnumpft f. „Gewalt, Vergewaltigung, Zwang“, unkūskī , unkūscī, unkūskida, unkūscida f. „Schändlichkeit, Schamlosigkeit, Unanständigkeit, Unzucht, Schändung“ sowie der für vergewaltigen die Verben bihuorōn „schänden, entehren, vergewal­ti­gen“, biliggen, biwemmen, fir­smīzan, ginōtagōn, ginōtzogōn, nōtzogōn „vergewal­tigen, entjungfern“ verwendet.
Vergewaltigung, das Abstraktum zum Verb verge­waltigen, ist eine Ableitung mit Präfix ver- zum Nomen Gewalt f. „Macht, Befugnis; unrechtmäßiges Vorgehen, wodurch jemand zu etwas gezwungen wird“, ahd. giwalt m., f. „Macht, Herrschaft, Obrigkeit, Herrschaftsgebiet, Verfügung“, Verbalsubstan­tivum zum Verb ahd. giwaltan bzw. waltan red.v. „herrschen, gebieten, regieren“, mhd. walten, walden, andfrk. waldan, got. waldan, anord. valda (mit unregelmäßigem Präteritum), aengl. wealdan, afries. walda < urgerman. *wald-e/a- < uridg. *(H)elH-dh-e/o- „stark sein, Gewalt haben“ (LIV²: 676f., oder eher *(H)elH-dhh1-e/o-; anders Kroonen 2013: 569, der die germanischen Formen auf eine Vorform *h2ulh1-t- zurückführt); urgerman. *wald-e/a- (< Transponat uridg. *(H)olH-dhh1-e/o- mit o-Stufe) ist vielleicht nach dem Präteritum umgebildet (vgl. Kroonen 2013: 569 und s. unter Anwalt), vgl. auch lit. véldu, veldti „besit­zen, regie­ren“. Die Wurzel liegt ferner in lat. valēre „stark sein, ver­mögen, können“ und dem n-Infix-Prs. air. follnadar „herrscht“ vor.

Literatur:
De Vaan, Michiel 2008: Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages. Leiden, Boston: Brill. (Leiden Indo-European Etymological Dictionary Series 7). 
DTA = www.deutschestextarchiv.de
DWDS = Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache des 20.Jahrhunderts. www.dwds.de. 
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Karg-Gasterstädt, Elisabeth u.a. 1952–: Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftr. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bd. 1–. Berlin: Akad.-Verl.
Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Köbler AhdWb = Köbler, Gerhard: Althochdeutsches Wörterbuch, 4 Auflage, online uter http://www.koeblergerhard.de/ahdwbhin.html.
Kroonen, Guus 2013: Etymological Dictionary of Proto-Germanic, Leiden-Boston: Brill.
Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Matasović, Ranko 2009: Etymological Dictionary of Proto-Celtic. Leiden & Boston: Brill.
Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1866. Online auch unter http://woerterbuchnetz.de/BMZ/
Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl.
Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb. von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2., erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix. Wiesbaden: Reichert.
http://de.wikisource.org/wiki/Key ser_Karls_des_f%C3%BCnfften:_vnnd_des_heyligen_R%C3%B6mischen_Reichs_peinlich_gerichts_ordnung 

Autorin: Sabine Ziegler