Etymologie

Volk

Volk n. „durch gemeinsame Kultur und Geschichte (und Sprache) verbundene große Gemeinschaft von Menschen“ ist bereits im 8. Jh. belegt: ahd. folc m./n. [a-St:] „Volk, Volksstamm; Bevölkerung; Menge, Schar, Volksmenge; Kohorte, Heer“, asächs. folk, mndd. volk, mndl. volc, aengl. folc, aisl. folk, langob. fulc- u. a. < urgerm. *fulka- n. „Volk, Kriegsvolk“. Ahd. folc steht in Opposition zu ahd. diot „Volk, Volksstamm“. Während diot z. B. auch lat. gēns und nātio glossiert und damit die Bezeichnung für die „Gemeinschaft von Menschen mit gemeinsamer Kultur, Geschichte, Sprache“ ist, bezieht sich folc oft auch auf kleinere Gruppen, vgl. die aus den Belegen gewonnenen Bedeutungen „Schar“ und „Kohorte“ und die mit folc glossierten lateinischen Wörter acies „Schlachtreihe“, agmen „Trupp“, caterva „Truppe, Schar“, coetus „Versammlung, Zusammenrottung“, cohors „Schar, Menge; Kohorte“, cuneus „keilförmig aufgestellter Haufen (Soldaten)“, legio „Legion“, manipulus „Handvoll, Manipel (Kompanie)“, tribus „Tribus, Gau“, turba „Schar“, turma „Schar“ (vs. multitudo „Menge“, plebs „Volk“, populus „Volk“, turba „Volk“, vulgus „Volk“). Außerdem ist folc Ausdruck für das niedere Volk (vgl. auch lat. plebs und vulgus). Weniger als Antonym zu folc, sondern eher als Synonym findet sich noch liuti, das als Plural die „Gesamtheit der Menschen (vgl. Sg. liut „Mensch“) mit gemeinsamen Hintergrund“ bezeichnet und daher oft mit Stammesnamen verbunden wird, z. B. thiudisca liudi „deutsche Menschen“ (AhdWb s.v. liut). Möglich ist aber auch ein Bezug auf eine gemeinsame soziale Stellung, so dass liuti auch zur Benennung der „unterstellten Menschen“ (lat. subditis „den Untergebenen“, Gl 2, 180, 13; AhdWb s.v. liut) dienen kann. Der Singular liut ist als Kollektivum wie diot auch zur Wiedergabe von lat. gēns und nātio in Gebrauch (und unterscheidet sich an dieser Stelle von folc). Im Unterschied zu diot und folc kann liut aber auch für die „ganze Menschheit“ stehen.
Urgerm. *fulka- < vorurgerm. *pl̥h1-go-, eine Bildung mit Suffix ‑go- zur Wurzel uridg. *pleh1- „(sich) füllen“ ist wegen seiner Grundbedeutung „Fülle“ mit den anders gebildeten Wörtern lat. plēbes und griech. πλῆθυς (plẽ̅thūs) „Fülle, Menge, Volkshaufe, Truppenmasse“ vergleichbar. Auf einer Rückentlehnung aus poln. półk „Regiment“ basiert Pulk. Urgerm. *fulka- bzw. Fortsetzer wurden ins Slawische und Ostseefinnische entlehnt und von dort in weitere Sprachen wie das Baltische und als jüngere Entlehnung in neuere Einzelsprachen. So wird für poln. półk die Herkunft aus dem Altrussischen einer direkten Übernahme aus dem Germanischen vorgezogen (EWA s.v. folc).
Zieht man jetzt noch die Etymologie für diot und liut(i) heran, so ergibt sich folgendes Bild:
diot < uridg. *teu̯(h2)-teh2- „Volk“ < zur Wurzel *teu̯h2- „schwellen, stark werden“ > *„die stark gewordene (Menge)“; auszugehen ist von einem substantivierten Verbaladjektiv mit Vollstufe (statt der üblichen Schwundstufe)
folc *„Fülle, Vielzahl“
liut *„erwachsener Mensch; Gesamtheit der erwachsenen Menschen“ (zur Wurzel *h1leu̯dh- „wachsen“).
Ahd. folc ist davon das am wenigsten spezifizierte Wort und bezeichnet deshalb eben auch noch nicht die „durch gemeinsame Kultur und Geschichte sowie Sprache verbundene große Gemeinschaft von Menschen“. Das geschieht erst in frühneuhochdeutscher Zeit: denn wyr deutschen sind eyn wild, rho, tobend volck, mit dem nicht leychtlich ist etwas anzufahen, es treybe denn die höhiste not (Luther w. 19, 75 W, DWb s.v. Volk) „denn wir Deutschen sind ein wildes, rohes, tobendes Volk, mit dem nicht leicht etwas anzufangen ist, es sei denn in höchster Not“. Diese Bedeutungsverschiebung geht einher mit dem Untergang des Fortsetzers von diot im 16. Jh. und des Singulars leut.

AhdWb: Karg-Gasterstädt, Elisabeth u.a. 1952–: Althochdeutsches Wörterbuch. Auf Grund der von Elias von Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftr. der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig bearb. von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Bd. 1–. Berlin: Akad.-Verl., s.vv. diot, folc, liut.
DWb: DWb: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main: Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de, s.vv. Diet, Volk.
EWA: Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, s.vv. diot, folc, liut.
Kluge, Friedrich 2002: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 24., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter, s.v. Volk.
LIV: Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb. von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2., erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix. Wiesbaden: Dr. Ludwig Reichert-Verlag, s.vv. *pleh1-, *teu̯-, *teu̯h­2-.
Lühr, Rosemarie 2000: Die Gedichte des Skalden Egill. Dettelbach: Röll. (Jenaer indogermanistische Textbearbeitung; 1).
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl., s.v. Volk.

Autorin: Bettina Bock