Zeuge
Zeuge m. „jemand, der vor Gericht
geladen wird, um Aussagen über ein von ihm persönlich beobachtetes Geschehen zu
machen, das zum Gegenstand der Verhandlung gehört“, auch allgemein „jemand, der
bei einem Ereignis, Vorfall zugegen ist oder war, darüber aus eigener
Anschauung oder Erfahrung etwas sagen kann“, ist seit mittelhochdeutscher Zeit
bezeugt: mhd. ziuge m. z.B. in sô bringet er die ziugen dar (Lieder
Saal 1, 491 Zeile 163; http://books.google.de/books/about/Lieder_Saal.html?hl=de&id=uYPU
84sM8n4C, gesehen am 15.8.2014; auch im Schwabenspiegel von 1275/76, varia
lectio zu § 22, nach Lexer, vgl.
http://books.google.de/books?id=tFYUAAAAQAAJ&printsec=frontcover
&dq=Sch
wabenspiegel&hl=de&sa=X&ei=S6ntU73_FafH7AbF4IGAAg&ved=0CCoQ6AEwAA#v=onepage&q=Schwabenspiegel&f=false,
gesehen
am 15.8.2014: vnd sol sine ziuge [vor Gericht] ziehen. vnd
ander di da bi sint gewesen). Älter ist die Bildung geziuge m. „Zeuge“, z.B. in daʒ
ir des mîn geziuge sît (Nibelungenlied, nach BMZ s.v. geziuge), die noch bis ins 18. Jh. nachweisbar ist. Der jüngste ermittelbare Beleg
dafür stammt aus dem Jahre 1717: Daß dieses also sich verhalte / und jetzt
Erzehltes in Gegenwart N. N. und N. N. als hierzu erbetener Gezeugen / […] solches
attestire ich eigenhändig / mit meiner Unterschrifft und aufgedruckten Notariat
Signet (Paul Jacob Marperger, Der
allzeit-fertige Handels-Correspondent, 4. Aufl. Hamburg 1717, nach DTA s.v.
Gezeuge. Ein jüngeres Zitat noch 1791 in: Man beruft sich deshalb
auf das Sächsische Landrecht III. Buch Art. 32, wo es heißt: „welch einkommen
Mann (advena) sich frey nennet, den soll man für frey halten, man mag ihn denn
das mit Gezeugen vorlegen […], Christian Friedrich von Glück, Versuch
einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für
meine Zuhörer. Erlangen 1791, nach DTA). Das zugehörige Verb ahd. ziugōn, mhd. (be-)ziugen
„verfertigen, machen, zustande bringen; bezeugen“, nhd. (be-)zeugen
sw.v. „Zeugnis ablegen; etwas als Zeuge erklären; durch Zeugenaussage, Zeugnis
beglaubigen, bestätigen, bekräftigen“ ist von ahd. ziug m., n. „Zeug,
Mittel Ausstattung, Gerät“ abgeleitet. Die rechtssprachliche Bedeutung kommt
erst in mittelhochdeutscher Zeit auf und ist möglicherweise durch Kollokationen
wie ahd. in urkundī ziohan (glossiert lat. antestari „jemanden als Zeugen
anrufen“), mhd. sich ziehen ze „vor Gericht als sein Eigen nachweisen, Anspruch
geltend machen auf, in Besitz nehmen“, frnhd. jemanden vor/in das Gericht ziehen „jemanden
anklagen“ gestützt worden.
Die Grundbedeutung von ziehen „jemanden, etwas
hinter sich her in der eigenen Bewegungsrichtung in gleichmäßiger Bewegung
fortbewegen; sich selbst fortbewegen“ ist hier noch deutlich. Der Zeuge
ist somit der, der als Anwesender zu einer Aussage „hinzugezogen, gebracht
wird“; der Begriff hat sich im Mittel- und Frühneuhochdeutschen durch die
Einengung auf rechtssprachliche Kontexte inhaltlich von der Wortsippe um ziehen
und Zeug deutlich entfernt. Ähnliches gilt auch für Zeugnis n.
(älter auch f.) „Aussage in einem Rechtsverfahren, Urkunde, Leistungsbewertung“,
mhd. ziugnisse, ziugnüsse f. n. Vergleichbare Bedeutungsübergänge zeigen etwa engl. voucher
„Zeuge; Zeugnis, Garantie“, das von dem Verb to vouch „(vor Gericht)
rufen, laden; zwingen, herbringen; bezeugen“ (ein Lehnwort aus lat. vocāre
„rufen; (vor Gericht) laden; locken, ziehen, bringen“, OED s.v.) abgeleitet ist, aind. gama- „Ankunft, Hinzukommen; Garantie,
Zeugnis“, āgamana- „Herkommen; Bestätigung“ (vom Verb gam- mit
Lokalpartikel ā- „herkommen“) oder das air. starke Verb gaibid „nehmen, ergreifen, (her‑)bringen“,
das im rechtssprachlichen Kontext „jemanden als Zeugen vor Gericht heranziehen“
bedeutet.
Ahd. ziug „Zeug, Mittel Ausstattung, Gerät“, ziugōn
sw.v. „verfertigen, machen, zustande bringen; bezeugen“, ziohan st.v.
„ziehen, führen“ stammen zusammen mit asächs. gitiuh „Aufwand“, mndd. getǖch,
tǖch „Gerät, Ausrüstung; Zeugnis, Zeuge“, mndl. ghetuuch „Stück einer
Ausrüstung, Zeugnis“, aengl. sulh-getēog „Pfluggerät“ sowie den Verben
andfrk. tian, got. tiuhan, asächs. tiohan, aengl. tēon,
afries. tiā „ziehen, führen“ < urgerman. *teuχ- bzw. *teuǥ-
(mit grammatischem Wechsel) < uridg. *dek- „ziehen“; vgl. lat. dūcere „ziehen, führen, leiten“, kymr. dwc
„bringt“, toch. A tskāt „zog heraus“, alb. nduk „zieht, zerrt“,
osset. duc-/doc- „melken“ sowie griech. da-dússomai „ich werde zerrissen“.
Literatur:
DTA = www.deutschestextarchiv.de.
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch.
Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck
der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.
Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main:
Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Köbler AhdWb = Köbler, Gerhard: Althochdeutsches Wörterbuch, 4 Auflage,
online uter http://www.koeblergerhard.de/ahdwbhin.html.
Kroonen, Guus 2013: Etymological Dictionary of Proto-Germanic, Leiden-Boston: Brill.
Mayrhofer, Manfred 1992–2001: Etymologisches Wörterbuch des Altindoarischen. 3 Bde. Heidelberg: Winter.
BMZ = Mittelhochdeutsches Wörterbuch.
Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet
von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1866.
Online auch unter http://woerterbuchnetz.de/BMZ/
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878.
OED = Oxford English Dictionary. www.oed.com.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl.
LIV = Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen.
Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb.
von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2.,
erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix.
Wiesbaden: Reichert.
Autorin: Sabine Ziegler