Horcher
Horcher ist zuerst im 18. Jh. in der
Bedeutung ‚Ohr eines Tieres‘ belegt: ich nahm ein stücklein feuerschwamm und
steckts dem langohr in den horcher (Musäus Kinderklapper 19; DWb). Das Nhd.
bietet Horcher ‚Ohr‘ auch für Menschenohren hauptsächlich in Dialekten
und umgangssprachlich: „Einem richtigen Nomaden friert jeden Winter draußen
bei der Herde ein Stück Ohr ab“ sagte Pema lässig und zeigt auf seine ganz
gesund aussehenden Horcher (V. Bünten: Tibetische Flüchtlinge in Indien,
S. 121, nach DWb). Das Verb horchen taucht zuerst bei Williram (11. Jhd.,
spätahd.) auf: dîne frîunta hôrechent gerno dîner stimmo; später dann
synkopiert als horchen: frnhd. als aber Petrus an die thür klopfet
des thores, trat erfur eine magd zu horchen (Apg 12, 13; Luther); änhd. nur
schweiget und horchet wie mäuslein (Goethe; DWb). Horcher ‚Ohr‘ ist ein maskulines Nomen
instrumenti zu dem Verb horchen wie z.B. Regler von regeln.
Das Suffix -er bildet in der Regel Nomina agentis, seltener Nomina
instrumenti und Nomina acti. Deswegen bezeichnet Horcher
in der Mehrzahl der Belege eine ‚Person, die horcht/lauscht‘. Das im späten Ahd. bezeugte hôrechen
wird synkopiert zu mhd. hôrchen, schließlich tritt eine Vokalkürzung vor
der Konsonantengruppe ein, die zu der auch heute noch gebräuchlichen Form horchen
führt (DWb s.v. horchen). Das lange ō ist wahrscheinlich durch
Analogie zu ahd. hôrjan, hôrran, mhd. hôren, hœren auf
hôr(e)chen übertragen worden (EWA s.v. hôrechen, OED s.v. to hark). Dem nhd. Verb horchen, spätahd. hôrechen,
entsprechen folgende Verben aus anderen westgerman. Sprachen: mengl. herkien,
nengl. to hark, afries. herkia, harkia, mndt. horken,
horcken (Kilian) ‚horchen, lauschen‘ deuten auf eine westgerman. Form *hork-jan. Dieses *hork-jan
ist eine westgerman. k-Erweiterung des german. Verbs *haus-jan /*hauz-jan, westgerman. *hōr-jan ‚hören‘, das
in got. hausjan, anord. heyra, aengl. hyran, afries. hēra, ahd. hōren bezeugt ist.
Vergleichbare k-Erweiterungen sind z.B. schnarchen neben schnarren,
engl. to snore ‚schnarchen‘, schmorchen neben schmorren
‚Hunger leiden‘. Ableitungen
mit dem Suffix -er sind in anderen Sprachen immer nur nomina agentis, so
engl. harker ‚Horcher, Lauscher, Spion‘ (OED s.v.). Es
gibt verschiedene Erklärungen für die german. Wurzel *haus- bzw. ihren
uridg. Vorgänger:
1. Die urgerman. Wurzel *haus- (mit gramm. Wechsel
*hauz-) setzt eine uridg. Wurzel (h2)kous- ‚hören‘
fort, die in griech. akoúein ‚hören‘ als thematisches Prs. bezeugt ist.
Möglicherweise ist uridg. h2kous-e/o- eine aus einem
voridg. Kompositum *h2k-h2ous- ,scharfe Ohren
habend‘ rückgebildete sekundäre Verbalwurzel mit Laryngalschwund im
Kompositionshinterglied (Schaffner 2001: 580 Anm. 308; Steinbauer 1989: 86; EWA s.v.
hôren).
2. Die urgerman. Wurzel *haus- ist die s-Erweiterung
einer uridg. Wurzel *(s)keuh1- ‚beachten, vernehmen,
schauen‘ (LIV² 561), die in gr. koéō, koéein ‚bemerken,
vernehmen, hören‘, lat. caveō,
cavēre
‚sich in Acht nehmen, aufpassen‘, aind. (ā)kuváte
‚beabsichtigen‘ (EWAia I, 328) sowie aksl. čujǫ, čuti ‚fühlen,
merken‘ belegt ist (EWD s.v. hören). Auch dt. schauen kann zu
dieser Wurzel gestellt werden (EWD s.v. hören, schauen).
Literatur:
DWb = Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch.
Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck
der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.
Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main:
Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
EWA = Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
EWAia = Mayrhofer, Manfred 1992–2001: Etymologisches Wörterbuch des Altindoarischen. 3 Bde. Heidelberg: Winter.
EWD = Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Kroonen, Guus 2013: Etymological Dictionary of Proto-Germanic, Leiden-Boston: Brill.
LIV² = Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen.
Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb.
von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2.,
erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix.
Wiesbaden: Reichert.
OED = Oxford English Dictionary. www.oed.com.
Schaffner, Stefan 2001: Das Vernersche Gesetz und der innerparadigmatische grammatische Wechsel des Urgermanischen im Nominalbereich. Innsbruck: Inst. für Sprachen und Literaturen. (Innsbrucker Beiträge zur Sprachwissenschaft 103).
Steinbauer, Dieter 1989: Etymologische
Untersuchungen zu den bei Plautus belegten Verben der lateinischen
ersten Konjugation. Unter besonderer Berücksichtigung der Denominative. Diss. Altendorf, 1989.
Autorin: Sabine Ziegler