Etymologie

Kerker

Kerker m. „sehr festes (oft unterirdisches) Gefängnis“ ist eine sehr frühe Entlehnung aus lat. carcer, carceris m.„Umzäunung, Pferch; Gefängnis, Kerker“, da noch die Aussprache des lat.<c> als /k/ vor hellem Vokal vorliegt. Eine jüngere Entlehnung ist Karzer m. „Schul-, Universitätsgefängnis“ mit Aussprache des lat. <c> als /ts/vor hellem Vokal. Das Wort ist bereits seit althochdeutscher Zeit bezeugt, vgl.ahd. karkār(i), karkeri, mhd. karkære, kerkære, kerker m., asächs. karkari m., aengl. carcern m., mndl. carker,caerker, nndl. kerker sowie got. karkara f. alle „Ker­ker, Gefängnis“. Lat. carcer wurde ins Griechische als kárkaros, kárkaron, ins Alt­irische als carcar ā, f. und ins Kymrische als carchar entlehnt.
Lat. carcer geht auf urital. *karkr(o)- zurück. Die weitere Etymologie ist unklar. Bisher wurde lat. carcer (r-Stamm!) entweder zu germanischen Wörtern wie ahd. harug m. a-St. „Hei­­­­­­­­­­­­ligtum, heiliger Hain, Tempel“, aisl. hǫrgr „Steinhaufen, Opferstätte“ u.a. (< urgerman. *χarǥ-a/u-< uridg. Transponat *kark-ó/ú-, *kork-ó/ú- oder *kargh-o/u-, *korgh-o/u-, vgl. Walde/Hofmann I: 130, EWA IV: 855f.) als *kark-- gestellt, oder zu lat. curvus „krumm, ge­bogen“, griech. kírkos„Ring“ mit Inten­sivreduplikation urital. *kar-kr-(o)- (so de Vaan 2008:92). Beide Versuche sind jedoch semantisch schwierig, die Verbindung mit curvus e.a. ist zudem lautlich (wegen des -a- in carcer) und morpho­logisch (eine reduplizierte Form sollte o-Ableitung wie uridg. *kwe-kwl-o-„Rad“, *h2e-h2us-o- „Gold“ u.a. zeigen; dessen ist sich wohl auch de Vaan bewusst, der urital. *kar-kr-(o)- rekonstruiert) pro­ble­matisch. Neben lat. carcer stehen nun Formen mit -n-: cancer, cancrī m. (o-St.!) „Gitter, Schranke, Einzäunung; Krebs“, cancellī, cancellōrum „Gitterwerk, Einzäunung, Schran­­­­­­ke“, die (mit weiteren Ableitungen) zeitgleich mit carcer bezeugt sind. Es wäre möglich, dass die ältere Form die mit -r- ist und cancer eine Dissimilation darstellt. Doch spricht die Wortbildung dagegen: cancer ist eine ro-Ableitung urital. *kank-ro- etwa „Gitterwerk, Zaun, Umfassung“ und somit einem gut bezeugten Wortbildungstyp zu­ge­hörig.Lat. carcer ist ein r-St. *kark--. Urital. *kank-ro- wiederum würde zu spätahd. scanc m. (a-St.) „Schrank, Gestell, Gitter­werk“< urgerman. *skanka- passen (dazu s. Lühr 1988: 143 und Zieg­ler inBock/Zeil­felder/Ziegler2013: 227f.), wenn man in spätahd. scanc Reim­wortbildung zu ahd. scranc annimmt; so Lühr 1988: 143; uridg. *skank-o- hätte im Urgermanischen eigentlich zu *skanχ-a- oder *skanǥ-a- (mit Verners Gesetz < uridg. *skank-ó-) werden müssen. Mög­licherweise haben beide Wörter etymologisch nichts miteinander zu tun, sich aber im Laufe der lateinischen Sprachgeschichte aufgrund ihrer lautlichen Ähnlichkeit auch seman­tisch beeinflusst.

Literatur:
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Bock, Bettina/Zeilfelder, Susanne/Ziegler, Sabine 2013: Deutsche Wortfeldetymologie in europäischem Kontext. Band 2: Der Mensch im Alltag. Hrsg. von Rosemarie Lühr. Wiesbaden: Reichert. Dictionary of the Irish Language. Electronic version: http://www.dil.ie/.
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Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Kroonen, Guus 2013: Etymological Dictionary of Proto-Germanic, Leiden-Boston: Brill.
Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
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Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1866. Online auch unter http://woerterbuchnetz.de/BMZ/
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl.
Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen. Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb. von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2., erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix. Wiesbaden: Reichert. 
Walde/Hofmann 1938: Walde, Alois / Johann Baptist Hofmann: Lateinisches Etymologisches Wörterbuch. Heibelberg: Winter.

Autorin: Sabine Ziegler