Stirn
Stirn ist ein
fem. ō(n)-St. und nur in einigen wgerman. Spr. bezeugt: ahd. stirna,
mhd. stirne, nhd. Stirn, mnd. sterne weisen auf german. *ster-nō(n)-,
das seinerseits auf ein uridg. Bildung *ster(H)-nah2-
zurückgeführt werden muss. Aengl. steornede ‚tapfer, kühn‘ ist das
Part.II. eines im Aengl. nicht und im Dt. nur spärlich bezeugten Verbs stirnen.
Es entspricht dem einmal im mhd. bezeugten Part. II gestirnet ‚mit Stirn
versehen‘. German. *sternō- wird
weiterhin mit griech. stérnon ntr. ‚männliche Brust‘ (also ‚die flache
Brust‘ im Gegensatz zur weiblichen Brust) in Verbindung gebracht. Zu Grunde
liegt die uridg. Wurzel *sterh3- ‚ausbreiten, hinbreiten‘
(LIV² 599f.). Die ‚Brust‘ und die ‚Stirn‘ sind also benannt nach der glatten
Fläche.
Die ursprüngliche Bedeutung ist ‚obere
Vorderseite des Kopfes‘ (Köbler AhdWb). Von da aus entfalten sich die
verschiedenen Bedeutungsnuancen ‚Vorderseite an Gebäuden‘, ‚vorderste
Schlachtreihe‘ sowie ‚Vorderseite‘ allgemein. Von der Vorstellung, jmds.
Charakter an der Stirn ablesen zu können (vgl. es steht ihm auf der Stirn
geschrieben u.ä.), können die
Bedeutungsvarianten von Stirn als ‚Frechheit‘ einerseits (vgl. er
besitzt tatsächlich die Stirn (= die Frechheit), das und das zu
tun;) und ‚Wohlverhalten‘ andererseits (vgl. stirnlos
= ‚ohne Stirn‘ (~ ‚ohne Wohlverhalten‘) = ‚schamlos, frech‘)
leicht erklärt werden (vgl. auch aengl. steornede ‚tapfer, kühn‘ < ‚mit
guter Stirn (~ ‚Wohlverhalten‘) versehen‘). Dieselbe Bedeutungsbreite findet
sich auch bei lat. frons ‚Stirn; Vorderseite von Gebäuden; erste
Schlachtreihe; Vorderseite allgemein; Sitz des Charakters‘ (Georges I, 2852
ff.), so dass ein Einfluss des Lat. auf die semantische Entwicklung des dt.
Wortes Stirn nicht ausgeschlossen werden kann.
Literatur:
De Vaan, Michiel 2008: Etymological Dictionary of Latin and the other Italic Languages. Leiden, Boston: Brill. (Leiden Indo-European Etymological Dictionary Series 7).
Georges, Karl Ernst: Lateinisch-deutsches Handwörterbuch.
Bd. I 1837; Bd. II 1838. Leipzig: Hahn’sche Verlagsbuchhandlung.
Elektronische Edition. Berlin: Directmedia Publ. (Digitale Bibliothek
69).
Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm 1854–1954: Deutsches Wörterbuch.
Bd. 1–16 (und Quellenverzeichnis, 1971). Leipzig: Hirzel. (Nachdruck
der Erstausgabe 1999: Bd. 1–33) München: Deutscher Taschenbuch-Verlag.
Auch als CD-ROM 2004: Der digitale Grimm. Frankfurt am Main:
Zweitausendeins. Auch unter: www.woerterbuchnetz.de.
Kluge, Friedrich 2011: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Begr. Friedrich Kluge, Bearb. Elmar Seebold. 25., durchges. und erw. Auflage. Berlin u.a.: de Gruyter.
Köbler AhdWb = Köbler, Gerhard: Althochdeutsches Wörterbuch, 4 Auflage, online uter http://www.koeblergerhard.de/ahdwbhin.html.
Lloyd, Albert L./Lühr, Rosemarie 1988–: Etymologisches Wörterbuch des Althochdeutschen. Bd. 1–. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Mittelhochdeutsches Wörterbuch.
Mit Benutzung des Nachlasses von Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet
von Wilhelm Müller und Friedrich Zarncke. 3 Bde. Leipzig 1854-1866.
Online auch unter http://woerterbuchnetz.de/BMZ/
Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872-1878.
Pfeifer, Wolfgang (Hg.) 1993: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2 Bde. 2., durchges. u. erg. Aufl. Berlin: Akad. Verl.
Rix, Helmut/Kümmel, Martin 2001: Lexikon der indogermanischen Verben: LIV; die Wurzeln und ihre Primärstammbildungen.
Unter Leitung von Helmut Rix und der Mitarbeit vieler anderer bearb.
von Martin Kümmel, Thomas Zehnder, Reiner Lipp, Brigitte Schirmer. 2.,
erw. und verb. Aufl., bearb. von Martin Kümmel und Helmut Rix.
Wiesbaden: Reichert.
Autorin: Sabine Ziegler